Wie geht unsere Politik mit Affekten und Emotionen um?
Affekte und Emotionen (Gefühle, Leidenschaften, Empfindungen, nicht blosse Triebe, um genau zu sein) sind elementare und unabdingbare Kräfte, die unsere individuellen und kollektiven Einstellungen und Handlungsweisen zum Guten und Besseren, aber auch zum Bedrohlichen und Schlechten steuern (können) und zwar, wie man täglich in den Zeitungen lesen oder am Fernsehen erfahren kann, in allen Bereichen, in den religiösen, den kulturellen, den wirtschaftlichen und vor allem auch den politischen, weil es dort um die Macht und um die Res publica bzw. um die für alle Gesellschaftsmitglieder wichtigen Angelegenheiten geht. Das Wort Emotion kommt aus dem lateinischen emovere und heisst ‚heraus-bewegen, emporwühlen, erschüttern’. Damit verwandet sind die Begriffe Motiv, Motivation, Mobilität, mobi-lisieren, Mobilmachung usw. Im Wort Affekt steckt das Verb machen. Beide machen sie die Bedeutung dieser Kräfte klar, ohne die, neben Verstand und Vernunft, nichts geht. Feiern gäbe es auch nicht.
Die Wissenschaft ist sich nicht einig, wie sie diese Gefühlswelt abgren-zen und kategorisieren soll, in Freuden, Liebe, Zuneigung, Stolz, Ver-ehrung usw. einerseits und in Trauer, Schmerz, Ärger, Wut, Zorn, Hass, Rache, Aggressionen usw. andererseits. Klar ist aber, dass diese Kräfte sowohl im einzelnen Menschen selbst wurzeln als auch aus zwischen-menschlichen, also sozialen Aktivitäten und Interaktionen entstehen und dabei intensiviert und für alle möglichen Zweck instrumentalisiert werden können, aber auch zivilisiert werden müssen.
Diese soziologische Bewegungsdynamik von Stolz und Zorn bzw. von Liebe und Hass lässt sich im Blick auf den dramatischen politischen Sturz Christoph Blochers verdeutlichen. Versteht man den alten Begriff ‚Stolz’ nicht nur umfrageläppisch z.B. als Schweizer Stolz auf die schönen braunen Kühe usw., wie man eben lesen konnte, sondern, wie Hans Ulrich Gumbrecht kürzlich dargetan hat, als ‚reaktiven Stolz, der ausgelöst wird von der Provokation und den Zumutungen übergeordneter Macht’, dann kommt mehr zum Vorschein.
Auch Blochers Sturz ist durch Affekte und Emotionen sowohl individuell als auch kollektiv bzw. sozial verursacht worden. Sein ausserordentliches individuelles Potential an Affekten und Emotionen, also Triebkräften, hat ihn einerseits zum ‚Auftrags- und Pflicht-Blocher’ mit einer hohen Selbstwerteinschätzung und einem starken Machtwillen und damit zu einem politische Akteur mit intensiver sozialer Zuneigung, politischer Liebe und Unterstützung gemacht. Er spricht ja nicht von den politischen Zielen, sondern vom ‚Gedankengut’ seiner SVP, wodurch seine ‚Gedan-ken’ schon durch diese Versprachlichung ein Stück weit als ‚gut’ be-zeichnet und damit emotionalisiert werden. Auch weiss man, in welchem Masse er mit seiner Rhetorik bzw. seiner Verbalisierung selektiver Themen und Kernsemantiken unserer politischen Kultur jahrzehntelang politische Affekte und Emotionen erzeugen und mit Hilfe vor allem der einschaltquotenbegehrlichen Fernseharena ein Politainment inszenieren konnte. Eine entsprechende Vermutung der überverhältnismässigen Prä-senz seiner Mannschaft und seiner Themen in den Medien ist eben be-stätigt worden. Seine nächste grosse Audienz im Albisgüetli ist bereits angekündigt, wobei die Schar seiner, in ihrem Stolz verletzten und verär-gerten Verehrerschaft dort diesmal nicht ausreichend Platz findet. So gross ist sie. (Politische Bewegungen müssen eben immer in Bewegung bleiben, sonst sterben sie ab.)
Den Beitritt der UNO und zum EWR, die Tätigkeit der sogenannten Classe politique usw. thematisierte er als Zumutungen an das Volk, die er mit starken Worten, grosser Gestik und Mimik stolz zurückwies. Kürzlich erklärte er in seiner Art, dass er kein Fernsehen besitze und nicht einmal wisse, wie man es einschalte. Das erweist sich jetzt allerdings als Fehler, denn hätte er selbst gesehen, wie er im Fernsehen häufig imperativ argumentiert und unkontrolliert gestikuliert, wie einmal mehr am vergangenen Sonntag, dann würde er seine Auftritte korrigiert und weniger Widerspruch kassiert haben.
All das und auch das individuelle und wirtschaftliche Potenzial des ander-en Blocher, des Macht-Blocher, wurde von der politischen Gegenseite mit der Zeit als Zumutung, als Provoktion empfunden, auf die diese dann auch mit Stolz bzw. mit Auflehnung und endlich mit einem Nein rea-gierte. So entstand die soziale Verursachung der Emotionalisierung. Im Grunde genommen brachten diese Reaktionen auf den Macht-Blocher, und dieser auch selbst, den anderen Blocher, den Pflicht- und Auftrags-Blocher zu Fall. Dieser Sturz wird von ihm selbst und von einem grossen Teil seiner Anhängerschaft, vor allem von der gross gewordenen Nationalratsfraktion, wiederum als verletzter Stolz, als Provokation und Unrecht empfunden und mit hochemotionalen Reaktionen von Wut, Tränen und Forderungen einer aggressiven und rächenden Oppositionsdrohungen beanwortet. Die Spirale drehte sich.
Damit eskalierte diese legale Auswechslung zu einem Ereignis, zu einem politischen Spektakel, das in einem schlechten Verhältnis zu den realen Problemen und Zukunftsaufgaben unseres Landes steht und der seinem Ansehen nicht zuträglich ist. Warum konnte es dazu kommen? Hat die Mehrheit der Bundesversammlung ein fragwürdiges Spiel getrieben oder versagten die normalen institutionellen Vorkehrungen der Kontrolle und Disziplierung übermässiger politischer Machtansprüche?
‚Liest’ man die Einrichtungen unseres politischen Systems auf die Frage nach den eingangs genannten Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Artikulation von Affekten und Emotionen und ihrer sachpolitischen Transformation und Kontrolle hin, dann liegen die folgenden Einsichten nahe. Erstens: Die direkte Demokratie hat immer Beides ermöglicht und bewirkt. Sie hat (auch als politisches Ventil) Affekte und Emotionen vergleichsweise spontan und häufig zugelassen, zugleich aber auch auf einzelne konkrete Sachfragen zurückgekoppelt, damit in ihren Wirk-ungen geteilt, kontrolliert und entschärft. (Für die föderalistisch aufge-spaltenen Wahlen gilt ähnliches.) Gleichwohl sind die Volksrechte inso-fern eine riskante Einrichtung, als sie, trotz ihrer besonderen Legiti-mationskraft, eben nicht nur viel Nein und Streit und Resignation bewirken, sondern auch zu Machtzwecken von Gruppen und Personen instrumentalisiert werden können. Die politische Gesellschaft der Schweiz hat dieses Risiko in langer Erfahrung zwar verinnerlicht, muss den Gebrauch dieser Instrumente aber dennoch kompensatorisch hoch-loben. Der gestürzte Bundesrat Blocher muss sich vorhalten lassen, die direkte Demokratie mit der einen Stimme zwar immer wieder hoch verehrt, mit der anderen aber übermässig zur Emotionalisierung heikler Themen und zur Organisation seiner Bewegung eingesetzt zu haben.
Zweitens: Der Föderalismus funigert in vielem ähnlich, auch er wirkt als ‚Ventil’ und als Band für die Bundesmitglieder. Auch das Milizsystem bindet politische Affekte an berufliche und wirtschaftliche Rationalitäten zurück, obwohl Blochers politische Bewegung professionell gemanaget wurde und die Konkurrenz damit nicht mithalten konnte. Drittens: Auch der Ständerat hat seinen ‚Stolz’ und bremst manchmal die Zumutungen des Nationalrates, es sei denn, die Oppositionsandrohungen der SVP würden auch noch die überkommene Praxis der Differenzbereinigung zwischen den Kammern aushebeln.
Schliesslich viertens verteilt und kontrolliert auch das Kollegialprinzip des Bundesrates Emotionen und Machtansprüche, was angesichts der Berichterstattungsbedürfnisse der Massenmedien immer schwieriger wird. Deshalb hat der Nationalrat eben richtig entschieden, dem Bundesrat keinen ‚Maulkorb’ anzuhängen, wie es eine populistische Volksinitiative will. Aber die Bundesversammlung hat mit der Abwahl von Christoph Blocher ein Tabu gebrochen und einen Skandal ausgelöst. Positiv an Skandalisierung ist, dass sie Korrekturen bewirken können und damit sind alle gewarnt worden.
Leonhard Neidhart