Vor den Wahlen: ein Blick in unsere Parteienlandschaft
Im Dorf braucht man keine Parteien. Eigentlich will man sie dort auch nicht so recht. Denn die Leute können selber, direktdemokratisch entscheiden. Wenn politische Gemeinschaften zahlenmässig aber gross sind und ihre Aufgaben damit schwieriger werden, dann müssen sie Vertretungen wählen, die die kollektiv verbindlichen bzw. politischen Entscheidungen vorbereiten und fällen. Dazu schliessen sich Gleichgesinnte und Gleichinteressierte zu Parteien zusammen.
Wir haben in unserem kleinen, vertikal und horizontal noch einmal kleingegliederten Land aber beides: Parteien und direktdemokratische Einrichtungen, und zwar viel und immer mehr von beidem. Diese konkurrierende Kombination der Institutionen muss man im Auge behalten, wenn man einen genaueren Blick in unsere Parteienlandschaft, genauer in die Parteienlandschaften, auf die Rolle der Parteien, auf ihre Programme, auf die Wahlen und die Wahlbeteiligung werfen will.
Um ein paar Folgen dieser einzigartigen institutionellen Kombination vorwegzunehmen: Wir stimmen und wählen laufend und in grosser Zahl. Insofern ist es logisch, dass die fallweisen Beteiligungen vergleichsweise gering sind. Die Häufigkeit der Urnengänge reduziert ihre Attraktivität und fordert den Berechtigten ‚Kosten’ ab. Ausserdem sind hohe Wahl- und Stimmbeteiligungen immer auch eine Folge von Konflikten. Schliesslich können unsere kleinen Gemeinden und Kantone ihre Wahlvölker nicht permanent gegeneinander aufbringen. Auch deshalb praktizieren wir Proporz und Konkordanz.
Wahlen sind in erster Linie Entscheidungen für oder gegen Parteien. Das halbe Schweizervolk liebt oder fürchtete sie offenbar nicht und geht auch deshalb nur unregelmässig an die Urnen. Inkompetent und ‚dumm’ ist es deshalb nicht, wie Berner Politologiekollegen nach den gleichgültigen Zürcher Frühjahrswahlen erforscht haben wollen. Gleichwohl, wer sich nicht an die Urnen bemüht, der macht politischen Fundamentalisten mehr Platz.
Hinzu kommt, dass diese Vervielfältigung der Urnengänge auch die Inhalte der Entscheidungen kleiner und einfacher, deshalb weniger mobilisierungskräftig macht. Weiter kann man aus dieser Kombination der Verfahren folgern, dass die Auswirkungen unserer lückenhaften Partizipationsfrequenzen bei Wahlen auf die Ergebnisse meistens gering sind, sonst würde das Wahlvolk reagieren. Das spricht auch für ihre Repräsentativität. Anders ist es bei den Abstimmungen. Die Parteien sollten mit dieser ‚Zurückhaltung’ des Souveräns fertig werden, einen passenden Wahlkampfstil finden und keinen unnötigen Lärm veranstalten.
Sodann hat die genannte institutionelle Kombination deutliche Konsequenzen für die politischen Parteien. Die direkte Demokratie hat ihnen immer wieder schwierige Entscheidungen abgenommen und sie damit entlastet, konserviert und sie in ihren Funktionen und ihrer Macht beschränkt. Auch deshalb haben wir noch ‚historische’ Parteien, mit allen Vor- und Nacheilen. Als sogenannte Willensnation bzw. als ein Staatswesen, das nicht durch eine gemeinsame Sprache zusammengehalten wird, können wir permanente und tiefe Parteipolitisierung nicht ertragen, was auch unsere neuen Nationalkonservativen wissen müssten. Volksabstimmungen können gewiss auch spalten, aber man kann Niederlagen schneller vergessen, weil bald wieder Siege folgen.
Und weil die direkte Demokratie Sachfragen selber entscheidet und wichtige Entscheidungen unserer gewählten Parlamentarier sogar wieder korrigieren kann, können unsere Parteien eben nicht glaubwürdig mit grossartigen Versprechungen und Wahlprogrammen aufwarten. Die direkte Demokratie begrenzt ihren Einfluss. Das wissen die Leute auch. Stattdessen können wir die Politik der Parteien an ihren Parolen zu den Volksabstimmungen sehr genau erkennen. Daraus kann die Wählerschaft Konsequenzen ziehen.
Trotz unserer direkten Demokratie haben wir und brauchen wir politische Parteien. Sie sind auch wesentlich dafür verantwortlich, dass der direktdemokratische Ja oder Nein Mechanismus ausgleichend und nachhaltig abläuft und nicht in Populismus und übermässigen Konflikten ausartet, zumal die Sachfragen immer komplexer werden.
Nun sind Parteien kollektive Akteure, die im Zwischenbereich von Gesellschaft und Staat bzw. von Volk und Behörden agieren müssen. Damit wird ihr Handlungsspielraum von zwei Seiten, zum einen von den Entwicklungen in der Gesellschaft und zum anderen von den Eigenheiten des politischen Systems (direkte Demokratie, Föderalismus, Konkordanz) bestimmt und abhängig. Unsere ‚historischen’ Parteien sind stärker gesellschaftsnah als anderswo und unsere staatlichen Behörden, vor allem die Regierungen sind weniger parteinah bzw. ‚überparteilich kollektiv’ zusammengesetzt. Das muss man erläutern.
Zunächst zu den Effekten des politischen Systems auf die Parteien und auf die Wahlen. Von der direkten Demokratie war schon die Rede. Sodann bindet unser ausgeprägter Föderalismus die Parteien an die Gemeinden, Städte und Kantone zurück und beeinflusst so ihr Verhalten und damit die Wahlen stark. Dort wird, wie im Bund, in aller Regel gemeinsam bzw. qua ‚Zauberformel’ und Konkordanz regiert. Von der ‚Zauberformel’ reden wir doch, weil wir so mit alten Parteilichkeiten fertig geworden sind und kaum dazu zurückkehren wollen.
Zur Krux unserer Parteien und ihrer Wahlkämpfe gehört es damit aber, dass sie sowohl gemeinsam regieren und in den Wahlkämpfen zugleich ein eigenes Profil und Programm präsentieren, also gleichzeitig regieren und opponieren und regieren wollen. Wenn sie dieses Doppelspiel übertreiben, wie das die neue ‚Vaterlandspartei’ immer wieder praktiziert, dann schaden sie dem Land. Ein Grossteil der Wählerschaft erwartet wohl, dass die relevanten Parteien auch nach den Wahlen weiter zusammenregieren, so etwas wie einen ‚Machtwechsel’ befürchtet oder erhofft bei uns kaum jemand. Auch das wirkt sich auf die Wahlbeteiligung aus.
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Jetzt zur gesellschaftlichen Basis unserer Parteien. In der Stabilität unseres Parteiensystems spiegelt sich auch die kontinuierliche und glückliche Entwicklung der schweizerischen Gesellschaft. Aber wie überall in demokratischen Verhältnissen sind auch unsere Parteien als erfolgreiche Nachkommen von sozialen Bewegungen entstanden, die ihrerseits Reaktionen auf gesellschaftliche Spannungen, Spaltungen und Krisen waren und immer wieder sind. Eine solche Stabilisierung wurde dann erfolgreich, wenn die Parteien über eine orientierende Ideologie und über ein starkes Personal verfügten. So war es auch in der Schweiz.
Die älteste soziale Bewegung und politische Partei ist bei uns die liberale. Sie hatte Freiheiten des Denken und die Handels- und Gewerbefreiheit gegen sture geistige Bindungen und gegen die alten Fesseln der Zünfte durchgesetzt. Unterstützt wurde sie dabei von aussen, von Napoleon und von progressiven Asylbewerbern. Leichter hatte es der Liberalismus in der Schweiz auch, weil unser Land nicht zwischen oben und unten gespalten war, also keine royalistische Oberschicht und keinen Adel kannte, gegen die revolutioniert werden musste. Freiheit war und ist im kleinen, deshalb abhängigen Staat immer schon ein grosses Thema gewesen und deshalb blieb die Schweiz das liberalste Land auf dem europäischen Kontinent. (Einen Teil dieses politischen Kulturgutes hat inzwischen Blocher den Freisinnigen für seine Zwecke streitig gemacht.)
Inzwischen ist die Schweiz so freiheitlich geworden, dass mehr Gesetze und staatliche Kontrolle (Raumplanung, Umwelt, Soziales, Gesundheit usw.) notwendig und kulturell-konservative Abwehrhaltungen wach wurden. Mit dieser Entwicklung haben die Liberalen ihre Mühe wie die CVP mit der katholischen Kirche. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts wehrte sich zunächst der Rechtsfreisinn (Redressement National) gegen mehr Staat. Aber seine Aufgaben, Ausgaben und die Defizite des Bundes wuchsen und die internationale Umwelt (Ende des Kalten Krieges, UNO, EWR, EG) veränderte sich.
Auch als Folge des Grosswerdens und der Internationalisierung der Wirtschaft im politischen Kleinstaat schwand die soziale Basis der FdP. Wirtschaftsleute hatten keine Zeit mehr für Politik; Offizierskarrieren waren nicht mehr gefragt wie früher; kulturelle Führungspositionen (z.B. in den expandierenden Universitäten) gingen verloren Dann folgten das Debakel der Swissair, der unglückliche Sturz der Vorzeige-Bundesrätin Kopp; der Freisinn verlor seine Führungsrolle im Bundesrat, die Partei schwächelte und wusste weder aussen- und europapolitisch und noch in vielen innenpolitischen Bereichen (Umweltschutz, Steuerpolitik usw.) so recht, wie es weitergehen sollte und erstarrte durch die Erfolge der SVP. In dieser gesellschaftlich diffusen Situation der vergangenen 70er Jahre erlebte Christoph Blocher seine Berufung als Retter des Vaterlandes.
Die zweitälteste soziale Bewegung und politische Partei entstand aus der Krise der Konfessionsspaltung und führte zur katholisch-konservativen Partei, die Industrialisierung dann zu Gegensätzen zwischen Kapital und Arbeit und zur sozialistischen. Beide dieser gesellschaftlichen Lager fühlten sich in der (glücklicherweise) mit dem Mehrheitswahlrecht regierten Eidgenossenschaft unter Druck und reagierten darauf mit ideologischer Verhärtung, die sich erst unter den Bedrohungen der beiden Weltkriege und der guten wirtschaftliche Entwicklung auflöste.
Das politische Problem der Katholiken wurde schneller gelöst, als jenes der Sozialisten. Beide Parteien hatten aber eine vergleichsweise homogene soziale Basis und beiden half der Proporz (1920) zu politischem Einfluss im Bund. Die KK wandelte sich zur CVP und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zur einflussreichen, bundestreuen und mehrheitsbeschaffenden Mittepartei, der allerdings, wie es zum ‚historischen’ Parteiensystem auch gehört, das Image der ‚Schwarzen’ lange anhing. Belohnt für ihre Politik des Ausgleiches wurde sie von der Wählerschaft kaum, obwohl sie stärkere Bundesräte hatte als die FdP. Ihr Raum im unseren überreichen Parteiensystem wurde aber enger und ihre soziale Basis schmolz. Die katholischen Kirchen wurden leerer, die evangelischen waren es schon, Klöster starben wie Bauernhöfe.
Grössere Mühe mit der staatspolitischen Integration hatten die Sozialdemokraten, die bis in die vergangenen dreissiger Jahre noch sozialistisch waren und im liberalen Staat deshalb harten Verdächtigungen ausgesetzt waren. Aber unsere grosse Wirtschaft wollte und will den sozialen Frieden und die zunehmende Urbanisierung unseres Landes schmälert die soziale Basis der Sozialdemokraten nicht. Starke Figuren wie z.B. Hubacher brachte sie auch hervor.
Um diese Retrospektive ganz kurz zu machen. Die ersten, die sich dann politisch selbständig machten, waren die, inzwischen zur Seltenheit gewordenen Bauern und kleinen Gewerbereibenden. Sie formierten sich nach dem Ersten Weltkrieg zur damaligen Bauern Gewerbe und Bürgerpartei (BGB) und kamen dank Proporz sofort in das Bundesparlament. In den dreissiger Jahren war es der legendäre Gottlieb Duttweiler, der das Lager der Konsumenten zum Landesring der Unabhängigen (LdU) von oben nach unten formieren konnte. Er wusste schon, wie man öffentliche Aufmerksamkeit erringt.
Die Zeiten des Zweiten und des Kalten Krieges stabilisierten das bürgerliche Parteienlager im Land. Links und rechtsradikale Parteien hatten in der prosperierenden kleinen, sich von Aussen immer bedroht fühlenden Schweiz keine nennenswerten Chancen. Erst in der zweiten Hälfte der 60er Jahre kam Bewegung die historisch gewachsene Parteienlandschaft. Dann war es der vornehme und fromme Herr James Schwarzenbach, der im Alleingang die ‚Überfremdung’ als soziale Bedrohung und Krise definieren und in ein politische Bewegung versammeln konnte. Nach seinem Abgang radikalisierte und zersplitterte sich diese Rechte und wurde später von Christoph Blocher eingesammelt
Ohne die Instrumente der direkten Demokratie wäre das Schwarzenbach kaum gelungen. Das Gleiche galt für die POCH am linken Rand unserer Parteienlandschaft. Beide Bewegungen konnten sich nicht dauerhaft als Parteien etablieren.
Als Folge des wirtschaftlichen Wachstums wurden Umweltprobleme zur Krise und führten zu einer ökologischen Bewegung und dann (wie in Deutschland) zu einer grünen Partei wuchsen, deren Forderungen inzwischen ein Stück weit akzeptiert worden sind. Radikale Bewegung und Parteiarbeit gingen bei den Grünen offenbar nicht gut zusammen und so spaltete und schwächte sich dieser neue Akteur. Nun ist auch das Thema der AKW’s entschärft.
Im letzten Vierteil des vergangenen Jahrhunderts wuchsen die Probleme im Land (‚Überfremdung,’ Verkehr, Raumplanung, Umweltschutz, Soziales, Bildung, Steuern, Aussenbeziehungen, Landesverteidigung usw.) und erforderten politische Neuorientierungen und Reformen. In jener diffusen gesellschaftlichen Situation trat der Pfarrerssohn Christoph Blocher auf den Plan und erlebte seine Berufung als Retter des Vaterlandes. Einen ersten Figth focht er mit der linken Studentenbewegung aus. Dann suchte er einen Platz und Chancen in einer Partei und liess sich von einem konservativen Geschichtsprofessor in Landeskunde weiterbilden. Aber die FdP wollte ihn nicht und so rächte er sich lange mit populistischen Geräuschen gegen die Classe politique und gegen Akademiker. Schliesslich fand er Unterschlupf in der damaligen BGB, deren lockere Führung dem hoch ambitionierten Neuling nichts entgegenzusetzen hatte.
Zug um Zug baute der Luftschutzoberst, das Land in der Krise beschwörend, die biedere Zürcher, dann die ganze Schweizer BGB und schliesslich bis in die Romandie in eine neue, nationalkonservative politische Bewegung von oben nach unten so um, wie er als sehr erfolgreicher Unternehmer die alte ‚Holzverzuckerungs-AG in Ems’ aus der Kriegszeit in eine starke Firma umorganisierte hatte.
So entstand mit seiner SVP eine posthelvetische Partei, eine ‚Schweizerische Volkspartei’ eben, mit einem reichhaltigen Programm aus Beständen der traditionellen politischen Kultur (Nationale Unabhängigkeit, Neutralität weniger Staat, soziale Moral und Ordnung) und aus Reizthemen wie ‚Überfremdung’, ‚Souveränitätsverlust’, ‚Asylmissbrauch’, Classe politique usw.(vom Umweltschutz hörte man wenig vor ihr), mit der er eine breite soziale Basis, angefangen von National- und Sozialkonservativen, über steuersparende Rechtsfreisinnige, überdrüssige CVPlern, auch mit Beschäftigten (Arbeiter und Angestellte), die sich durch die Zuwanderung in ihrem Status bedroht fühlten, also mit Leuten aus allen anderen Parteien erreichen konnte. Seine politische Propaganda war zeitweise so stark, dass viele seiner Anhänger ‚die Katzen im Sack seiner Politik’ kaum erkennen konnten. Das führte zu Wahlerfolgen, die wiederum für Aspiranten auf politische Ämter (sogar für Journalisten) attraktiv wurden.
Die Mittel auf diesem Weg waren erstens die überschweizerisch talentierte Führungsgestalt des Milliardärs mit entsprechender Verehrung und Ablehnung im ‚Volk’, seine Doppelstrategie der simultanen starken Parteipolitisierung und der opportunistischen Nutzung der direktdemokratischen Instrumente und nicht zuletzt viel populistische Rhetorik unter ständiger Anrufung des ‚Volkes’, viel eigenes, unkontrollierbares Geld, mit dem er, angefangen mit den ‚Puure- Zmorge’, Handörgelis und Kuhglocken schliesslich viele Abstimmungs- und Wahlkampagnen finanzieren und dominieren konnte. Noch nie hatte die Schweiz eine politische Führungsfigur gekannt, die inzwischen ein Vierteljahrhundert lang, sendungsbewusst und besessen, aktiv ist, gegen die niemand weder an Delegiertenversammlungen noch am Fernsehen auftrumpfen und rechthaben konnte und die seiner Partei widerspruchslos einen jungen Bauernsohn aus den Bergen als Präsident oktroyieren konnte.
Der Weg zum Aufstieg dieser neuen politischen Bewegung und Partei führte auch über das Fernsehen, vor allem über die junge ‚Arena’. Sie brauchte unbedingt Auftrumpfer für Einschaltquoten und Blocher öffentliche Auftritte und Bekanntheit für sein Programm. Und das half beiden lange Zeit, mehr als allen anderen Parteien.
Endlich war das bürgerliche Lager gespalten. Der Schweiz geht es derzeit wirtschaftlich erstaunlich gut. Wie es mit dem neuen Europa weiter geht, bleibt aber ungewiss. Im Wahlkampf redet man lieber die ‚Asylanten’ als über diese Zukunftsfrage. Einen Machtwechsel durch die Wahlen erhofft und befürchtet kaum jemand. Aber das Volk hat die Wahl, entweder den antimodernistischen und isolationistischen Kurs der SVP weiter zu stützen oder für eine offene Perspektive der anderen Bundesparteien in das angefangene 21. Jahrhundert zu votieren.
Leonhard Neidhart
Okt 2015