Unser Bundesparlament und seine Mitgliedschaften

Unser Bundesparlament hat Züge einer ‚unwahrscheinlichen’ Organisation mit ‚unwahrscheinlichen’ Mitgliedschaftsrollen! Um vorweg dazu etwas Klarheit zu schaffen: Organisationen sind da, um Ziele zu erreichen und Rollen definiert die Soziologie als Verhaltenserwartungen (Pflichten, Leistungen, Sanktionen), die an Personen oder Amtsträger gerichtet wer-den. ‚Unwahrscheinlich’ nennt sie auch ‚kontingent’ im Sinne. dass alles auch anders sein und ablaufen kann, weshalb Struktur erforderlich ist.

Wir alle (beiderlei Geschlechts) sind in Organisationen eingespannt und wir alle müssen oder sollten eine ganze Anzahl von Rollen (Verhaltens-erwartungen) erfüllen: als Ehe- und Familienmitglieder, als Nachbarn, Berufstätige, Wähler oder Verkehrsteilnehmer usw. Meistens heraus-fordernde und konkurrierende Tätigkeiten mit deshalb oft ‚unwahr-scheinlichen’ Ergebnissen.

Unsere ParlamentarierInnen im Bund haben darüberhinaus mit zusätzli-chen Rollen und mit einer Organisation zurechtzukommen, die um einiges ‚unwahrscheinlicher’ sind. Das soll jetzt das Thema sein, weil bald Wahlen fällig sind. ‚Unwahrscheinlich’ ist also erstens die Aus-übung der speziellen Rollenkombinationen unserer Volks-, genauer uns-erer Parteienvertreter. Und ‚unwahrscheinlich’ wirkt zweitens, dass unser Bundesparlament mehreres zugleich ist (oder hat): nämlich ein (doppelter) Rat, eine (schwache) Organisation, ein Staatsorgan und ein Subsystem des ganzen Regierungssystems. Damit steht es unter dem Druck mehrerer Erwartungen, kann auch aus verschiedenen Blick-winkeln beschrieben werden.

Erstens zu den speziellen Rollenkombinationen unserer Parlamentsmit-glieder. Dabei muss zwischen dem sogenannten Milizprinzip und der Doppelrolle durch die Natur des Politischen unterschieden werden. Vom Milizprinzip, also der Verkoppelung von Beruf mit Politik, soll jetzt nicht die Rede sein. Es hat, wie jede andere Problemlösung, seine Vorteile und seine Nachteile bzw. seine ‚Unwahrscheinlichkeiten’.

Bekanntlich fungiert jedes Parlamentsmitglied zum einen als Vertreter einer Partei oder einer Gruppe, ex definitione also nur eines Teils des ‚Volkes’, und zum anderen und zugleich auch als Mitglied eines Staats-organs. Dieses muss aber im Interesse der ganzen Gesellschaft, also Aller handeln und entscheiden. Diese politische Doppelrolle kann latent spannungsvollere Verpflichtungen und Konflikte mit sich bringen, deren Bewältigung dann auch ‚unwahrscheinlicher’ ist.

Zur Natur des Politischen gehört, dass es sich dabei um Entscheidungen handelt, die für Alle verbindlich gelten müssen, weil es in der Regel um existenzwichtige Inhalte geht (res publica), um Entscheidungen (Gesetze) auch, an deren Beschlussfassung sich alle (so oder anders) beteiligen können und deren Einhaltung mit dem Mittel ‚physischer Gewaltan-wendung’ (Gefängnis) erzwungen werden kann und muss. Diese komplexen und konfliktgeladenen Eigenschaften sind es, welche die ge-nannte Doppelrolle spannungsvoller und ‚unwahrscheinlicher’ machen.

Denn ein Parlamentsmitglied muss oder sollte ‚zwei Seelen in seiner Brust’ haben und zugleich mindestens ‚zwei Herren’ (und auch sich selbst) dienen: nämlich einerseits den eigenen Überzeugungen (dem Gewissen) und dem Image, dann seiner Wählerschaft, der eigenen Partei, einem ‚nahen’ Verband, vielleicht auch Angehörigen von Geschlecht oder Alter, einem Kanton oder einer Landesregion (nicht zu vergessen, immer mehr auch den Medien) und andererseits den Anforderungen und Pflichten des Parlamentes und dort den Erwartungen der Fraktion, einer allfälligen Kommission und dann dem Plenum.

In der einen Rolle sollte das Parlamentsmitglied also die Ideen und Interessen seiner ‚Leute’ möglichst hart vertreten und in der anderen (und zugleich) die Argumente und Anliegen der Konkurrenten berück-sichtigen, um so Mehrheit und Handlungsfähigkeit des Parlamentes zu ermöglichen. Tut es das erstere, dann strahlt es (auch bei seinen Wählern) als überzeugungsstark und ‚senkrecht’, tut es das andere, dann gilt es eher als blasser Kompromissler und Abweichler. Erschwert und ‚unwahr-scheinlicher’ wird die Ausübung dieser Doppelrolle auch dadurch, dass sie in der öffentlichen Arena häufig einseitig wahrgenommen wird und Vermittler für die Medien zu ‚langweilig’ sind und deshalb in der Berichterstattung leicht ‚zwischen Tisch und Stuhl’ fallen.

Hinzuzufügen wäre, dass Parlamentsmandatesehr knapp und sehr begehrt sind, so dass Inhaber und Bewerber gewiss ‚Ellbogen’ gebrauchen müssen, um zu bestehen. Das kann das politische ‚Rollenspiel’ auch stören. Und je kompromissloser rechte und linke politische ‚Ellbögen’ gleichzeitig antreten, desto häufiger kommt es zu ‚unheiligen Allianzen’, präziser zu politischen ‚Scherbenhaufen’, von deren Widerhall die Maximalisten und jene mit dem ‚klaren Profil’ in der Öffentlichkeit und auch bei bei Wahlen paradoxerweise eher profitieren. Solche bad news sind für manche Medien eben good news.

Wie aber können solche Kontingenzen, solche ‚Unwahrscheinlichkeiten’ reduziert bzw. ‚wahrscheinlich’ gemacht werden? Mindestens auf zwei Wegen. Den einen bestimmen wesentlich Wählerschaft und Parteien, den anderen kann die Institution ‚Rat’ ermöglichen.

Die erforderliche politische Ambivalenztoleranz, das heisst das Ertragen- und gerechte Austragenkönnen dieser gegensätzlichen Rollen, bringen nur Personen (jenseits von Quoten nach Geschlecht, Alter, Sprache, Kanton usw.) auf, die über Charakter, Kompetenz und Lebens-erfahrungen verfügen. Das ist der erste Weg über Persönlichkeiten. Er führt nur dann zum Ziel, wenn die Parteien und ihrer Vorstände dem Wahlvolk entsprechend fähige Personen und keine Egozentriker, Ideologen und Selbstdarsteller zur Wahl vorschlagen. Das gehört auch in der halbdirekten Demokratie zu ihren wichtigen Verantwortungen. (Unverkennbar ist allerdings, dass das Fernsehen mit seiner selektiven Aufmerksamkeit für Kandidierende, für die goodlookings, diesen politischen Auswahlprozess nicht ‚wahrscheinlicher’ macht.)

Der zweite Weg führt über die Institution bzw. das Regelsystem ‚Rat’. Das Schweizervolk will sich mit der direkten Demokratie möglichst selbser regieren und duldet deshalb keine führende Einzelperson, keinen starken Präsidenten oder Premierminister. Damit bleibt der ‚Rat’ als lockere Institution, als frei gewählte Versammlung von gleichberechtigen Vertretern aus möglichst allen Teilen der Gesellschaft. Solche Räte oder Kollegialsysteme sind in unseren kleinen kommunalen und kantonalen Verhältnissen eingeübt und dann zu den Ecksteinen unseres ganzen Regierungssystems geworden. Ihre Funktion ist es, das politisch ‚Unwahrscheinliche’ möglichst pragmatisch und konfliktarm ‚wahrscheinlich’ zu machen. Dabei ‚hilft’ ihnen das Schicksal der Kleinheit. Die Existenz kleiner politischer Gebilde ist ‚unwahrscheinlicher’ und deshalb werden sie, wenn sie klug genug sind, solche Kontingenzen mit kooperativen Institutionen bearbeiten, wozu auch die in kleinen Räten mögliche ‚Zauberformel’ und verhandlungs-basierte Problemlösungsverfahren (Konkordanz) gehören.

Damit das möglich wird, müssen die Ratsmitglieder die eben genannten Qualitäten mitbringen. Hinzu kommt eine institutionelle Eigenheit schweizerischer Räte. Weil der Grad ihrer Institutionalisierung geringer ist, haben ihre Mitglieder mehr Freiheiten, einen vergleichsweise grös-seren Handlungsspielraum. Das gilt für Stadträte, Regierungsräte, auch für den Bundesrat und stärker noch für die beiden gesetzgebenden Räte, für den National- und den Ständeat. Diese Ratsmitglieder bzw. Parla-mentarer sind alle formal gleichberechtigt, in ihren Entscheidungen theoretisch autonom, ansonsten nach Wissen, Interessen, Ideen, Indeen, Interessen, nach Ambitionen, Profilierungsbedürfnis, Geschlecht, Alter, Einfluss, Kompetenz, Vermögen usw. verschieden und ungleich. Und nur weil unsere Parlamentarier diesen Handlungsspielraum haben, können sie Mehrheiten erzielen, obwohl in der Bundesversammlung keine Partei eine solche zustandebringt.

Um es kurz zu machen: Die Mitglieder schweizerischer gesetzgebender Räte (Parlamente) sind vergleichsweise freier (indidviddualistischer), erstens weil kleine politische Gebilde mit einfacheren, weniger strikt organisierten Verfahren auskommen könnne, zweitens weil wir ‚extreme’ Formen der Gewaltenteilung haben, drittens deshalb keine starke Führungsfigur wollen, viertens weil wir zahlreiche und (wegen der direkten Demokratie) schwächere Parteien haben, die keinen strikten Fraktionszwang ausüben können, viertens weil unsere Parlamentarier keine Mehrheiten bilden müssen, um die Regierung vor einem Sturz zu bewaren und schliesslich fünftens, weil niemand unsere Bundes-versammlung mit Auflösung drohen und damit ihere Mitglieder bestrafen kann.

Die auf vier Jahre fest gewählten Ratsmitglieder können grundsätzlich sagen, kritisieren, entscheiden und machen, was sie wollen: Im Rat anwesend sein oder nicht, mitarbeiten oder nicht, Vorstössen machen oder nicht, Ja sagen oder Nein sagen oder gar nichts sagen. Sie müssen sich nicht rechtfertigen, sie können sich gegenseitig nicht sanktionieren, aber wieder kandidieren oder sogar die Partei wechseln.

Dieser Spielraum eröffnet zwei Möglichkeiten: nämlich einerseits die Vertretung der eigenen Überzeugen und der Interessen der eigenen Wählerschaft und andererseits auch ein Ja zu den Interessen und Erwartungen (der anderen Mitglieder) des Rates. Um es kompliziert und ‚modern’ auszudrücken: Das Aushalten und verantwortungsbewusste Management dieser doppelten Kontingenz ist gute Repräsentation. Sie hängt nicht nur mit der soziologisch repräsentativen Vertretung von Geschlecht und Alter, sondern auch vonn Charakter und Kompetenz ab. An der Wählern und vor allem den Parteiverantwortlichen liegt es, Leute in die Räte zu schicken, welche diese Eigenschaften haben und die notwendigen politischen Ambivalenztoleranzen ertragen und praktizieren können,

damit, um es kompliziert auszudrücken das Management der doppelten Kontingenzen bzw. Abhängkeiten. Das kann man Repräsentation nennen.

Gleichwohl muss dieser Rat etwas tun, sein Ansehen pflegen, Beschlüsse fassen, Probleme lösen, die Erwartungen der Klientel befriedigen, den Bundesrat wählen und kontrollieren, Geld beschaffen und verteilen.

Die Mitglieder dieser ‚unwahrscheinliche Ratsversammlung’ nicht nur nebenamtlich angestellt und arbeiten deshalb nur saisonal. Hinzu kommt, dass unser Bundesparlament aus zwei rechtlich gleichgestellten, aber nach Wahlart, Grösse und Zusammensetzung verschiedenen Räten besteht, die sich nolens volens einigen müssen, damit ihre Arbeit wirksam wird. Damit sie ihre Aufgaben erfüllen und ihr Ansehen bewahren können, schlagen sie im Allgemeinen drei Vorgehensweisen ein. Erstens gegeben sie dem Bundesrat Aufträge und lassen sich die Entscheidungen von ihm vorbereiten. Dieser tritt dann mit ‚Botschaften’ vor die Räte

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