Ueber Eigenheiten, Wandel und den diskreten Charme des Ständerats.
Ueber Eigenheiten, Wandel und den diskreten Charme des Ständerats.
Wir reden und schreiben häufig über die Volksrechte, eher wenig aber über unsere Volksvertreter. Das ist ein Mangel. Denn wir sind auf allen drei Ebenen des Bundes mit vielen von ihnen „gesegnet“. Und von Geburt der modernen Eidgenossenschaft an versammeln sich in Bern pe-riodisch je zwei Vertreter der Kantone als Ständerat, der kleinen, etwas ungleich zusammengesetzten und deshalb von einigen immer wieder scheel angesehenen, aber unterschätzten Zweiten Kammer, als einer zu-sätzlichen, quasigebietsständischen Repräsentation. Um die geht es jetzt.
Denn dieser Rat hat sich, kaum bemerkt von der Oeffentlichkeit, stark „herausgemacht“. Und das vor allem als Folge des gesellschaftlichen Wandels und der Drucklast der Staatsaufgaben. So ist er Mitte der achziger Jahre auf einen Schlag mit 17 (von 46) neuen Mitgliedern, da-von auch einige aktive Frauen, renoviert worden. Selbst sein als jüngs-tes gewähltes und mit 25 Mitgliedsjahren jetzt ältestes, iuristisch mit allen Wassern lange gewaschenes, zugleich konservativ und unkon-ventionell amtierendes Mitglied, der Innerrhoder Carlo Schmid, rang sich zur Feststellung, dass „wir nicht mehr jene Kammer von Anfang der achziger Jahre sind, in der es einige wortgewaltige Führer gab und dahinter jene, die ihnen folgten. Wir haben zu wenig miteinander gesprochen. Wir haben die Auffassungen als Parlament zu wenig offen untereinander diskutiert. Etwas mehr sprechen, auch wenn es mehr Zeit braucht, kann diesem Rat nicht schaden.“
Zu den herausforderndsten Eigenheiten dieses Gremiums gehört die Tat-sache, dass dort eine sehr kleine Anzahl von nur 46 Personen vier Jahre lang, in der Regel länger, über viele und wichtige Angelegenheiten einer sieben Millionen grossen Bevölkerung entscheiden oder mitentscheiden kann. Hat diese kleine „legale Oligarchie“ genügend Repräsentativität, genügend Ideen, Kompetenz und Ressourcen, um ihre Aufgaben effektiv erfüllen zu können? Und ist sich der Rat seiner Oligarchie be-wusst, wie geht er damit um? Ausserdem: Wie kommt diese kleine An-zahl von (nebenamtlichen!) „Multifunktionsangestellen“ der Kantonsvöl-ker zu Konsens und Mehrheit,obwohl sie nach Zugehörigkeit zu sehr un-gleich grossen, geographisch, historisch und ökonomisch verschiedenen Kantonen, zu unterschiedlichen Sprachen, Konfessionen, Parteien, Beruf-en und Interessen und obwohl sie an persönlicher Kompetenz, Charakter, Alter, Geschlecht und politischen Ambitionen ganz anders sind.
Vorweg sei festgehalten, dass sich der Rat seiner „Herrschaft der Weni-gen“ bewusst ist und er diese durch eine strenge Organisationskultur sowie durch eine elitäre Selbstbeschreibung permanent reflektiert und zu kompensieren versucht. „Die Stärke des Ständerats ist die spontane Dis-kussion im Gegensatz zum Nationalrat, bei dem in der Plenardiskussion 20 bis 30 Einzelredner nacheinenander einen Monolog halten. (..) Sie be-steht darin, dass man nur spricht, wenn man neue Argumente zu bringen hat und dass man kurz spricht.“ (So der ehemalige Ständerat Rüesch, SG, ein humorvoller, manchmal schulmeisterlicher Unsanzenwahrer alter Schule.) Oder der Professsoren-Ständeherr Rhinow, Baselland 1993: „Wir, gerade wir im Ständerat, dürfen doch nicht etwas gutheissen, wenn echte Bedenken bestehen!“ (Tut das etwa der Nationalrat?) Und weiter: „Dieser Rat hat es bisher verstanden, mit sehr viel Engagement, aber auch mit einer gewissen Distanz zu den Dingen, seine Entscheidungen zu treffen.“ (Ständerat Schweiger, ZG) Schliesslich staatspolitisch immer wieder ausholende, rhetorisch brilliante Appenzeller Carlo Schmid nach seinem Präsidialjahr 2000: „Der Ständerat ist keine Arena sondern eine Curia, in der man sich gegenseitig nicht nur leben lässt, sondern auch achtet, in der man nicht nur seine Meinung kundgibt, sondern auch die anderen anhört und sie versucht zu verstehen, bereit ist, ihnen zu folgen, wenn sie die besseren Argumente haben, was stets als möglich zu unterstellen ist. Diese Funktion nimmt der Ständerat in besonderer Weise als Chambre de reflexion wahr.“ Das kann Charme in dieser „Konferenz der Kantonsvolksvertreter“ erzeugen.
Jetzt zur organisatorischen Bearbeitung der Kleinheitsprobleme und damit zu den institutionellen Eigenheiten dieses Rates. Es ist klar, dass ein Gremium mit 200 Mitgliedern (Nationalrat) oder gar mit über 600 (Deutscher Bundestag) andere Verfahrensprobleme hat als ein kleines aus 46 Köpfen. Für den Ständerat, so die folgende Argumentation, sind des-halb die Folgeprobleme und Vorteile seiner kleiner Mitgliederzahl prä-gend und erklärend. Denn er hat als Kleiner die gleichen Aufgaben zu erfüllen wie der grosse Nationalrat und muss deshalb aus seinen Nöten der Kleinheit (d.h. der Personal- und Ressourcenknappheit, dem gering-eren Grad der Institutionalisierung, der konfliktanfälligen und unaus-weichlichen Enge seiner Verhältnisse, der Abhängigkeit, des potenziell geringeren Einflusses und sogar eines gewissen Minderwertigkeits-komplexes) Tugenden machen.
Diese Logik der kleinen, auf Dauer zur Zusammenarbeit gezwungenen Mitgliederzahl erfasst alle Elemente und Prozesse der Organisation Stän-derat, so die Stellung und den Einfluss des Einzelnen im Kollektiv, die Art der Informationsbeschaffung und der Kommunikation, die Ueber-zeugungsarbeit, den oppositionellen Widerspruch, den Konfliktaustrag, damit den Verhandlungsstil, die Arbeitsbelastung, das Lobbying usw.
Dabei wirkt allein schon der kleine Raum disziplinierend. Man spricht vom eigenen Sitz aus und muss nicht über ein Mikrophon „schreien“. Man sieht sich gegenseitig an und darf deshalb weniger laut und pole-misch werden. Das würde entsprechende Missachtungen auslösen. Pathos wäre lächerlich. Stattdessen muss man intensiver zuhören. Zeitung lesen wie in der Anonymität des Nationalratsplenums wäre eine Affort gegen Sprechende. Und es fällt eben auf, wenn einer nicht im „Saal“ anwesend ist oder diesen verlässt. In dieser Uebersichtlichkeit wird nonverbale Kommunikation möglich. Auch kann man sich nach Streit kaum aus dem Wege gehen oder im Plenum „verschwinden“. „Ich habe gespürt, dass mein Antrag vielerorts Kopfschütteln oder doch mindestens das Heben von Augenbrauen ausgelöst hat.“ ( Plattner, BS) Oder: „Ich interpretiere den Gesichtsausdruck des Präsidenten so, dass man über die Interpel-lation nicht lange reden soll.“ (Seiler, SH). Dass diese kleinheitsbedingte Transparenz Konformitäts- und Kontrolldrücke auslösen und bei kontro-versen Abstimmungen zum „Schielen“ verführen kann, bleibe nicht uner-wähnt. Schliesslich: je näher man sich räumlich und auch zahlenmässig ist, desto peinlich wirkt und trifft es einem, wenn man sich mit einem Redebeitrag blamiert. Auch deshalb wird man sich sorgfältiger vorbereiten. Das kommt dem Diskurs zugut.
Was weiter die Effekte der kleinen Zahl betrifft, vergesse man nicht, dass in der Regel nie alle 46 Mitglieder im „Saal“ anwesend sind, wodurch der Rat real noch kleiner und die genannten Wirkungen stärker werden. (Gleichwohl ist die Präsenz, auch kleinheitsbedingt, besser als im Natio-nalrat.) Deshalb: Je weniger Mitglieder eine Organisation oder eben eine Parlament zählt, desto grösser und erkennbarer können Einfluss, Anseh-en, Bekanntheit, Prominenz, Macht und Handlungsspielräume, aber auch das Versagen des Einzelnen werden. Ein guter Jurist kann im Ständerat vieles durchsetzen, ein schlechter nichts. Da zeitweise bis zu zwanzig Anwälte im „Stöckli“ sassen, muss er sich dabei aber bewähren, wenn er sein Ansehen nicht beschädigen will. Ständerate lobbyieren auch und für die Verbände ist es aber „billiger“, einen einflussreichen Ständerat statt einen Nationalrat zu engagieren. Aber die Transparenz des kleinen Gremiums entlarvt rücksichtslose Lobbyisten.
Und wenn und weil es wenige Mitglieder sind, ist man sich persönlich näher und alle kennen Herkunft, Beruf, politische Einstellungen, Kompe-tenz und sogar Privates voneinander besser. Das kann zu Sympathien, zu Zusammenhalt, aber auch zu Antipathien, personalen Kollisionen zwisch-en politischen Gegenern, zu Kumpaneien und damit zu Beeinträchtig-ungen des Ratsklimas führen. Nach Streit kann man sich während des Ratsgeschehens kaum aus dem Wege gehen, sondern muss eine ganze Legislaur lang zusammenarbeiten. Hinzu kommt die stärkere „Aussen-abhängigkeit des Kleinen Rates. Wenn er sich übermässig streitet und nicht einigen kann, verliert er im ohnehin empfindlichen Verhältnis zum Nationalrat und auch in der Oeffentlichkeit.
Je kleiner die Zahl der Beteiligten desto personaler und damit anschluss-fähiger werden Kommunikation und der Austausch von Positionen und Argumenten. Der Zwang zum Zuhören ist stärker und jeder Redner kann für seine Aussagen sofort „zur Rechenschaft“ gezogen werden. Deshalb wird man in einem solchen Kreis überlegter und sorgfältiger argumen-tieren, will man in der nächsten Sitzung wieder ernstgenommen werden. Das kommt der Diskursqualität zugute und gehört zum Charme dieses „nationalen Kantonsrates“. Bemerkenswert ist auch, dass als Folge der kleinen Anzahl fast alle Ratsmitglieder während einer Session zu Worte kommen können. Dabei fällt auf, dass sie alle selbstbewusst in der Ich-form sprechen. Sie wollen ja keine „Sprachrohre“ von Parteien oder Frak-tionen sein. Letztere gibt es im Ständerat nicht. Man geht in seine Frak-tion im Nationalrat. Praktisch alle Mitglieder sind in einer oder meist zwei Kommissionen, sodass der Informationsstand des Plenums gut ist. Besonders gross ist die Belastung der kleinen Vertretungen.
Dass solchen direkten, distanzlosen und personenbezogenen Kommuni-kationen und Verhandlungen ein besonderes Betroffenheits- und Kon-fliktpotenzial innewohnt, ist bereits angedeutet worden. Um in der Enge etwas Distanz und „Friede“ zu schaffen, denn auch im Ständerat werden Interessengegensätze ordentlich hart ausgetragen, fortiter in re sed suaviter in modo, und der Bedeutungszuwachs von raumrelevanen Poli-tikfeldern wie der Raumplanung, des Verkehrs, der Umwelt- und Gewäs-serschutzes sowie die „Sparübungen“ hat diese Auseinandersetzungen er-heblich verschärft, kultiviert der Rat besondere Symbole der Freundlich-keit. Dazu gehört, dass der Präsident Mitgliedern zum Geburtstag gratu-liert, was im Nationalrat nicht möglich ist. Sonst geht es im Plenum nüchtern her und zu. Man applaudiert oder protestiert eigentlich nie. Man macht selten Zwischenrufe und befreiende „Hilarité“ ist rar. Aber das Gremium reagiert heftig, wenn sich Mitglieder verbal gehen lassen und deshalb tun sie es nicht. Wenn es dann einmal hart auf hart geht, dann sagt man nicht mehr Herr Carlo Schmid, sondern Herr Schmid Carlo.
Damit wird die Logik der kleinen Zahl erkennbar. Sie erschwert die Lösung bestimmter auf einem geringeren Grad der Institutionalisierung ablaufenden Probleme und vereinfacht und erleichtert andere. Zu den Kernproblemen gehört erstens, dass es nur zwei Gewählte sind, die ein ganzes „Kantonsvolk“ vertreten können und sollen und zweitens, dass diese als Nebenamtsparlamentarier und Saisonniers in Bern mit einer minimalen organisationellen Infrastruktur auskommen, aber über alle Geschäfte bearbeiten müssen. Diese Bedingungen der Kleinheit bewirk-en paradoxerweise eine Kumumlation oder Kombinination zahlreicher und unterschiedlicher Rollen bzw. Verhaltenserwartungen im „Dossier“ eines Schweizer Ständerates.
Denn bevor man und damit man in den Ständerat gelangt, muss man sich in einer oder mehreren Rollen bereits bewährt und bekannt gemacht haben. Sonst überwindet man die in den grossen Kantonen hohe Hürde des Majorzes nicht. Man ist entweder in einer kantonalen oder kommua-len Regierung oder an der Spitze eines Verbandes oder man arbeitet als Anwalt oder ähnliches oder war schon erfolgreicher Nationalrat. Mitglied einer Partei und verschiedenen Vereinen ist man ohnehin. Beruf und Partei behält man nach der Wahl ins „Stöckli“ bei und als Ständerat kom-men zwei weitere Rollen auf das Mitglied zu, jene des Repräsentanten eines Kantons und je als Mitglied eines nationalen Legislativorgans.
Deshalb existieren die buntesten Rollenkummulationen. Vor allem die Exektivmitglieder kleiner Kantone haben offensichtlich noch viel Zeit für Nebenämter. Von persönlichen Belastungen abgesehen besteht ein entscheidender Vorteil dieser polyvalenten Rollenbündel darin, dass ein Ständeratsmitglied gesellschaftliche Bedürfnisse, Interessen und Informa-tionen auf kürzestem Weg erfahren und beschaffen kann und damit weniger einem selbstreferenziellen Politikbetrieb verfällt. Das erhöht die Leistungsfähigkeit des prekären Milizsystems.
Hinzu kommt das, was man derzeit eine lose Koppelung bezeichnet. Das heisst, dass die Rolle eines Ständerates weder an eine Partei oder eine Fraktion noch an einen Verband, auch nicht an den Kanton oder an den Bund fest gebunden bzw. entsprechend funktional spezialisiert ist. Das begründet die besondere Macht und Verantwortung eines Mitgliedes des Ständerats. Diese Eigenschaft der losen Koppelung ist entscheidend, denn sie ermöglicht es dem einzelnen Ratsmitglied, flexibel auf verschiedene Erwartungen einzugehen, um so im Gremien zu Konsens und Mehrheit zu kommen. Ob und wie sie das dann tun, ist eine empirische Frage. Ausserdem erleichtert sie die regierungsfähigkeitsfördernde Differenz-bereitung im Zweikammersystem und macht das kleinheits- und majorz-bedinge Repräsentationsdefizit des Ständerats politisch tolerabel.
Die in den vergangenen Jahrzehnten pluralistischer gewordene Zusam-mensetzung des Ständesrates hat dank dieser losen Rollenkombinationen mehr Kompetenz und Responsivität in diese „Konferenz der Vertreter der Kantonsvölker“ gebracht. Sie steht dem Nationalrat kaum mehr nach. Sie arbeitet mit einem Mimimum an Transaktionskosten und pflegt einen gehobenen Debattenstil. All das gehört auch zum diskreten Charme dieses erfolgreichen schweizerischen Unikats Ständerat.
Leonhard Neidhart