Sind Konkordanz und Kollegialität nur noch schöne Namen?
Wir haben mit der Konkordanz und der Kollegialität überaus wohlklin-gende politische Namen. Die anhaltende Kritik am Bundesrat, an der Konkordanz, sogar am Regierungssystem und die unendliche Kampagne über die Nachwahlen in den Bundesrat zeigen aber, dass diese beiden Praktiken doch nicht so einfach ist.
Warum aber so viel Kritik an ihnen? Ist die Schweizer Politik so schlecht geworden oder können wir uns immer noch nicht (oder nicht mehr) auf eine Definition der Konkordanz und der Kollegialtät einigen? Machen wir uns ein falsches oder idealisierendes Bild von ihnen oder messen wir sie nur an modischen Massstäben des betriebswirtschaftlichen Manage-ments? Was also heisst Konkordanz und für wen gilt sie? Für das Parla-ment, für den Bundesrat, für die Parteien oder auch für das Wahl- und Abstimmungsvolk? In drei Schritten soll nach etwas Klarheit gesucht werden
Den ersten macht die Geschichte des Begriffs Konkordanzdemokratie. Er stammt nämlich aus den Niederlanden. Von dort aus kam er als Gegen-begriff zur Konkurrenzdemokratie britischen Musters in den Gebrauch. Auf der britischen Insel herrscht bekanntlich ein rigides Mehrheitswahl-recht, das die Entscheidungsprobleme auf seine Art löst, indem es Wählerminderheiten in parlamentarische Mehrheiten verwandeln kann. In den Ländern mit Proporz entstehen solche Regierungsmehrheiten aber nicht, so dass sie über Verhandlungen, Absprachen und Koalitions-verträge (Konkordanzdemokratie) gesucht werden müssen. (Aus der Presse kann man erfahren, welch enormen Schwierigkeiten unsere ‚Staatsverwandten’ Belgien und Holland derzeit, und einmal mehr, damit haben.) Irgendwann nach 1945 wurde die Beschreibung Konkordanz-demokratie auch bei uns (wohltuend) populär. Allerdings passt sie nicht richtig für unsere Verhältnise, wie später zu zeigen sein wird. Und genau das erklärt einen Teil der gegenwärtigen Irritationen und der ober-flächlichen Kritik.
Der zweite (historische) Schritt zur Erklärung wird etwas länger. Zu den Besonderheiten der Schweiz zählt, wie man weiss, dass sie nie eine zentrale (monarchische) Gewalt kannte, ihre politischen Probleme deshalb immer schon mit anderen Mitteln, durch Schwüre und Vergenos-senschaftlichung (Eidgenossenschaft), Bündnisse also durch Konkordanz bearbeiten musste. Das war nie leicht und hat immer wieder zu Konfusionen und Konflikte (Sonderbundskrieg, Gernalstreik) geführt, zählt aber zum ‚politischen Gen’ der Konkordanz. (Dass es heute viel schwieriger geworden ist, wollen viele offenbar nicht einsehen.)
Doch im jungen Bundesstaat nach 1848 war Regieren noch einfacher, weil auch für den Nationalrat der mehrheitsbildende Majorz galt und der Bundesrat deshalb politisch relativ homogen zusammengesetzt war, weil es straff organisierte Parteien noch nicht gab und der Bund erst wenig Kompetenzen hatte. Dann kam 1874 das fakultative Gesetzesreferen-dum, mit dem ‚ausserparlamentarische’ Kräfte, zunächst vor allem aus den katholisch-konservativen und föderalistischen Lagern und wer auch sonst noch wollte, wirksam opponieren bzw. Diskordanz bewirken konnten. Um diese Opposition zufriedenzustellen musste ihr die radikale Mehrheit einen Bundesrat zugestehen. Das Konfliktpotenzial des Referendums zwang also von Anfang an zu Kooperation bzw. zu Konkordanz und Kollegialität der Regierenden, und zwingt sie auch heute noch dazu, damit ‚Scherbenhaufen’ vermieden werden können. (Diese systembedingte Wurzel der Konkordanz wird noch einmal zur Sprache kommen.)
Wie man weiss, wurde dann 1918 per Volksinitiative der Nationalrats-proporz durchgesetzt. Die vollständige Proportialisierung des Bundes-rates als ‚Zauberformel’ erfolgte erst ab 1960. Endlich in 1984 erhiel-ten die Frauen einen Bundesrat. Unter der ‚Zauberformel’ verstand man, dass es gelungen war, in der sehr kleinen, zwingend nur sieben Mitglieder zählenden Regierung Platz für alle relevanten politischen Kräfte des Landes zu machen und seither eine stabile, korrekt arbeitende und krisenfreie Regierung zu haben.
Im Laufe der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts wuchsen mit der Wirt-schaft der Konsum, die Automobile, die Zahl der Ausländer usw. Der Bund hatte mit der Raumplanung, dem Umweltschutz, der Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Verkehrspolitik usw. neue und schwierige Aufgaben zu bewältigen, was Konsensbildung und Konkordanz zwangs-läufig erschwerten. An den rechten und linken Rändern des Parteien-systems zeigten sich Risse (Schwarzenbach, POCH, Grüne). Dank seiner seiner starken Verankerung in den Kantonen und seiner Entlastung durch die direkte Demokratie blieb es vorerst stabil und stützte damit die unsprüngliche ‚Zauberformel’. Die damalige Totalrevision der Bundes-verfassung liess das Regierungssystem unangetastet.
Dann erzeugte Christoph Blocher neue Herausforderungen von ‚Zauber-formel’ und Konkordanz, indem er zunächst gegen einen Betritt der Schweiz zur UNO, dann zum EWR und jetzt gegen die EU und gegen die Ausländer usw. mobilisierte und die alte BGB mit einer Mischung aus Nationalkonservatismus, Antietatismuns und Ausländerfeindlichkeit, auch mit viel Geld und grossen Worten in eine rechtspopulistische Bewegung umfunktionierte. Damit verstärkte er das Gewicht der Partei-lichkeit in unserer Mischverfassung (Parteiausschluss einer vom Parla-ment rechtmässig gewählten Bundesrätin, Doppelspiel von Regierungs-beteiligung und Opposition jetzt auch von Rechts, machtpolitische Instrumentalisierung der direkten Demokratie) und erschwerte damit die Konkordanz. Parallel dazu werden Forderungen nach einem Koalitions-vertrag und nach einer Regierungsreform laut. Und jetzt verlangt Blocher (wie früher die Linke) auch noch die Volkswahl des Bundesrates.
Schliesslich zum dritten Erklärungsschritt. Er soll zeigen, dass Konkor-danz und Kollegialität zusätzlich ihrer traditionalen Legitimität erstens auch systemnotwendig sind und zweitens den besonderen Heraus-forderungen der kleinen, sprachgespaltenen Willensnation entsprechen. Zu den Eigenheiten unseres Regierungssystems zählt, wie man weiss, dass es aus föderativen, repräsentativ-semiparlamentarischen und direkt-demokratischen Einrichtungen, gewissermassen aus einem ‚Dreisäulen-system’ besteht. Dabei handelt es sich um ein ausserordentliches Mass an Gewaltenteilung und Gewaltenzersplitterung, die, um es kurz zu fassen, durch die Konkordanz und die kollektive Regierung ‚reintegriert’ werden (müssen).
Die Organisationstheorie hilft, diese enorme Gewaltenzersplitterung und ihre Folgeprobleme exakter zu beschreiben. Sie spricht von loser (locker-er) Koppelung, wenn die Elemente eines Systems oder die Akteure einer Organisation nur schwach miteinander verknüpft und damit relativ unabhängig sind. Das ist bei uns in extremis der Fall. In diesem Sinne lose gekoppelt sind der National- und der Ständerat, sodann ihre Mitglieder im Verhältnis zu den Parteien und Fraktionen (kein Fraktions-zwang, grosser Spielraum für individuelle Vorstösse, wildes kandidier-en). Das Gleiche gilt für das Verhältnis der Kantone zu ihren ‚Vertretern’ im Ständerat (kein imperatives Mandat), sodann für die gegenseitigen Beziehungen den Bundesratsparteien (‚unheilige Allianzen, Doppelspiel von Regierungsbeteiligung und Opposition. Lose gekoppelt sind auch das Parlament und der Bundesrat (kein Misstauensvotum usw). Schliesslich sind die Mitglieder des Bundesrates nicht fest in das Gremium einge-bunden, insofern der Bundespräsident keine Weisungskompetenz hat und der Rat seine Mitglieder nicht entlassen kann. Und endlich lassen sich die Wahlberechtigten nur bedingt an ihre Parteien und ihr Parlament binden, indem sie per Initiative und Referendum gegen deren Willen aktiv werden und bei Wahlen panaschieren können.
Natürlich erzeugt diese komplexe politische Apparatur Reibungen und damit Kritik. Aber sie ermöglicht (mit dem Föderalismus und den Volks-abstimmungen) auch Spielräume und Flexiblität. Ihre politischen Ergebnisse können sich sehen lassen. Sonst wären unsere Allparteien-regierung und damit die Kollegialität und die Konkordanz nicht so lange erhalten geblieben. Statt im ganzen Land herum und bald in jeder Zeitung oder Fernsehsendung über den Bundesrat und die Konkordanz herzu-fallen und über unrealistische und unrealisierbare Regierungs-reformen zu spekulieren und plappern, sollten jene beiden ‚Institutionen’ wirklichkeitsgerecht und zeitgemäss praktiziert und verstanden werden. In keiner alten Demokratie werden politische Einrichtungen so ober-flächlich und häufig kritisiert wie bei uns.
Konkordanz und Kollegialität sind ja nicht ‚ein Herz und eine Seele’, keine Harmonie Konkordia, sondern die kollektive Ausübung der Staatsgewalt, eine politische, also streibare Arbeitsgemeinschaft, in der die knappen Kräfte aber zusammengelegt und das unvermeidliche Niveau der Konflikte und seine Kosten möglichst gering gehalten werden sollen. Sie sollen aus der grundsätzlichen Einstellung und Bereitschaft erwachsen, sich trotz Interessengegensätzen immer wieder zu einigen. Beide können (wie in der Wirtschaft) auch mangelhaft ausfallen, dürfen deshalb kritisiert werden, müssen aber immer wieder neu erworben werden.
Beide zählen zum politischen Modell Schweiz. Wer aus ihnen einen Mythos macht und sie deshalb dauernd und übertrieben kritisiert oder wer die Parteilichkeit unnötig verschärft, beschädigt sie. Verantwortlich dafür, dass das nicht über alle Massen geschieht und dass Konkordanz und Kollegialität nicht nur schöne Worte bleiben, sind in erster Linie unser Führungspersonal bzw. die Damen und Herren in den eidgenössischen Räten. Sie müssen auch für die Bundesratswahlen verantwortlich bleiben.
Leonhard Neidhart