Regierungsbildung und Regieren in unserem Land
Mit Bundesrats-Auswahlen geschieht hierzulande das, was man anderswo die Regierungsbildung nennt. Jene sind erstens aber eine besondere Pro-zedur, diesmal sogar eine ganz besondere, und zweitens beeinflussen sie den Stil unseres Regierens sehr stark. Darum soll es, aus gegebenen Anlässen, jetzt gehen.
Der vergangene Abstimmungssonntag gehört, neben den bevorstehenden Ersatzwahlen zum Bundesrat, auch zu diesen. Er hat wieder einmal gezeigt hat, dass das Regieren in der Schweiz zusätzlich zur Konkurrenz zwischen den Parteien auch einem (sehr offenen) Wettbewerb zwischen dem Volk und den Behörden ausgesetzt ist. Die direkte Demokratie lässt nämlich mit Initiativ- und Referendumkomitees allerei gesellschaftliche Gruppen (neupolitologisch ‚Vetospieler’) in das Geschäft des Regierens. Damit werden Reformen, aber auch Opposition möglich. Bei aller Ver-ehrung und Anerkennung dieser Einrichtung öffnet sie eben besondere Hintertüren für Populismus, d. h. für die Emotionalisierung politischer heikler Themen und Werte für Zwecke des Machterwerbs.
Das Nein der SVP zur Erweiterung des Abkommens über die Personenfreizügigkeit mit EU Mitgliedern gehört auch auf diese Negativliste. Christoph Blocher und seine Gefolgschaft praktizieren jene populistische Mobilisierungsstrategie mit einem finanziellen und verbalen Riesenaufwand, unterstützt von der ‚politischen Stierkampf-Arena’ des Fernsehens, seit Jahrzehnten. Auf keinen Fall will er damit aufhören und auf jeden Fall wieder in den Bundesrat.
Durch Konkordanz und Zauberformel sollen die beiden Wettbewerbe der direkten und Parteiendemokratie ‚synchronisiert’ werden, um Regierbakeit zu erzeugen. Das war und ist immer wieder ein schwieriges Geschäft. Denn alle gesellschaftlichen Gruppen haben diese politischen Instrumente mit gutem Recht, aber mit unterschiedlicher Intensität angewendet. So wollte der Zürcher Freisinn am letzten Sonntag die Verbandsbeschwerde abschaffen und die Linke das AHV-Alter flexibi-lisieren usw. Ohne Zweifel födert dieses ‚Hybridsystem’ von direkter und repräsentativer Demokratie die Qualität unseres Regierens stark. Mit einem komplexen politischen Instrumentarium wird es besser.
Der konfortabel ‚aufgestellte’ Kleinstaat Schweiz sollte seine Probleme nicht dramatisieren. Wenn er damit nicht fertig wird, ist er selber schuld. Gleichwohl sind die bundesrätliche Regierungsbildung und das Regieren schwieriger geworden. (Wo hat es denn einen ‚Frauenaufstand’ wegen der Wahl eines ‚Ministers’ gegeben? Und, wer weiss, möglicherweise wird die Schweiz bald von einer ‚Bundesratsfrauenmehrheit’ regiert?) Schwieriger geworden sind Konkordanz und Zauberformel vor allem erstens durch den Zuwachs der Staatsaufgaben (bzw. gesellschaftlicher Probleme wie Umweltschutz, Verkehr, Erziehung, Migration, Sozialver-sicherung usw.) und zweitens als Folge der Entstehung einer national-konservativen politischen Bewegung und damit einer Spaltung des bürgerlichen Lagers. Das setzt unsere herkömmlichen (alten), teils einfachen Institutionen unter Druck.
Vor allem den Bundesrat, unsere Regierung. Er ist zahlenmässig sehr klein. Das ist einerseits eine Voraussetzung für die kollektive Ausübung der Regierungsgewalt, auf die wir nicht verzichten wollen. Andererseits werden damit (und auch durch den Zuwachs der Staatsaufgaben) die Departemente gross und wichtig und ihre Vorsteher zu eigentlichen ‚Departementspräsidenten’. Diese werden von den Aufgaben ihre eigenen Departemente immer stärker in Anspruch genommen. (Was kann die Aussenministerin Calmy-Rey von den Mehrwertsteuerplänen des Finanz-ministers Merz wissen?) Das erschwert die kollektive Willensbildung und die Führung durch den jährlich rotierenden, sich immer neue einarbeiten müssenden Bundespräsidenten und setzt gute Departe-mentschefs voraus. ‚Schwierige’ Bundesräte komplizieren das kollektive Regieren zusätzlich. Deshalb will das Parlament solche nicht und hat ausnahmsweise einen einmal (mit den bekannten Folgen) abgewählt.
Sodann wirkt die gewachsene Bedeutung der Departemente auch auf die Wahl der Bundesräte und die Verteilung der Ressorts zurück. Sie werden immer wichtiger und Chefs der Departement immer mächtiger. Deshalb wollen alle Parteien in die Regierung. Und wer drin ist, kann schon immer nicht mehr ‚entlassen’ werden bzw. seine Entlassung selbst wählen. Deshalb, und weil jede Partei oder Sprachregion nur wenige ‚Minister’ hat, können deren Erfolge oder Misserfolge trotz kollektiver Verantwortung stark auf die Parteien zurückwirken. Deshalb passen sie bei den Wahlen genauer auf.
In keiner Demokratie werden die Minister einzeln und gemäss Dienstalter vom Parlament gewählt wie in der Schweiz. Und weil keine Partei dort eine Mehrheit hat und man sich auf die Zauberformel als ‚grosse Koalition’ festgelegt hat, müssen sich die Parteien in der Personenwahl gegenseitig unterstützen und die Kandiaturen der Gegenparteien ‚schlucken’. Das heisst, die Kandidaturen müssen auf einer Bandbreite gegenseitiger Zumuntungs- und damit Zustimmungsmöglichkeiten liegen. Hinzu kommen die Kauteln des Sprachen- und der Frauenanteils. Ausserdem ist die Anzahl der Sitzplätze im Bundesratszimmer ist klein, die Eintrittserwartungen aber immer grösser. Kann die überkommene Zauberformel demnächst auch die Grünen integrieren? Und was geschieht, wenn FDP und CVP gleich stark geworden sind? All das gehört zum politischen Event schweizerischer Regierungsbildung.
Nicht nur die Regierungsbildung auch das Regieren verläuft bei uns nach anderen Regeln. Die Schweiz kennt Regierungskrisen oder Regierungs-stürze nicht. Wir haben immer eine Regierung und ergänzen immer nur in kleinen Teilen und sukzessiv. Das und die kleine Anzahl von (zurück-getretenen Ministern) spart Kosten und Renten. Neben den Pensionen zahlt die Eidgenossenschaft den ‚Altbundesräten’ nur ein gemeinsames Jahresesssen. Ihre Reden müssen die Bundesräte selbst herausgeben und Biographien folgen allenfalls erst später. Denkmäler gibt es auch nicht. Und Strassen werden in der Schweiz nicht nach Bundesräten benannt. Es sei denn, die SVP Zürich, motiviert von Nationalrat Mörgeli und unterstützt von der ‚Weltwoche’ lancieren demnächst eine Volksinitiative zum Bau eines Denkmals für Christoph Blocher.
Das Regieren in der Zauberformel ist eine unbefristete grosse Koalition ohne inhaltlichen Koalitionsvertrag, aber eine solche nach Spielregeln der Konkordanz, d.h. der Bereitschaft (und dem Spielraum) zum Aushandeln von politischen Problemlösungen von Fall zu Fall. Und zwar wesentlich deshalb, weil mögliche Referendumsdrohungen jeweils wegverhandelt werden müssen. Dieses fallweise Aushandeln von Problemlösungen geschieht in enger Kooperation von Bundesversammlung und Bundesrat, weil ja, horribile dictu, auch Parlamentarier das Referendum gegen ihre eigenen Entscheidungen ergreifen oder eine Regierungspartei das Budget ablehnen kann, wie es die SVP eben getan hat. Ausserdem erzwingt es Kompromisse mit manchmal wohl langsameren, aber nicht immer schlechteren Reformschritten., wie der Zustand unseres Landes zeigt. Aber eben: Diese Konkordanz hat ihren Preis. Sie begrenzt den Einfluss der Parteien sowohl in Sach- wie in Personenfragen und setzt eine kon-kordanzfähige politische Führungsschicht voraus. Die Parteipolitisier-ung durch die Zürcher SVP hat uns Land bisher kaum weiter gebracht.
Leonhard Neidhart