Regieren in loser Koppelung
Mit dem Neuwort „lose Koppelung“ will man beschreiben, wie in einer Organisation, wie zum Beispiel im Bundesrat, die Mitglieder eigene Handlungsspielräume haben und haben sollen, obwohl sie miteinander verbunden und voneinander abhängig sind und das auch sein müssen. Notwendig ist aber lose und starre Koppelung, wenn Akteure Handeln und Entscheiden wollen und müssen. Denn die starre Koppelung schafft Struktur, Regelungen Verbindlichkeit, Berechenbarkeit, auch machtvolle Zwänge so wie Abhängigkeiten. Die lose Koppelung dagegen ermöglicht Freiheitsgrade, Chancen der Artikulation eigener Bedürfnisse und Inter-essen und eben Spielräume für die Personen und Institutionen, aber auch solche des Missbrauchs von Macht, der Profilierung und eines Durchein-anders. Mit beiden Koppelungen sind also (zwangsläufig) Vorteile und Nachteile verbunden. Aber beide müssen sein, und deshalb sollte ein gegengewichtiges Verhältnis herrschen. Denn immer dann, wenn eine dieser Beziehungen übertrieben wird, gehen Interaktionen kaput.
Das gilt insbesondere für die Politik, letztlich aber auf allen Ebenen des Zusammenlebens, angefangen bei Ehe und Familie, über Betriebe und Vereine bis hin in den Staat und in internationale Organisationen wie jener der EU. Im Vordergrund des Fragens steht meist die lose Koppel-ung, weil sie sich als lose eben leichter verändern und manipulieren lässt, wodurch jenes ausgleichende Verhältnis schneller bedroht wird.
Wenn es in der politischen Schweiz so etwas eine Super-Zauberformel gibt, dann ist es sehr wahrscheinlich die Tatsache, dass wir eine höchst vielfältige Kombination von starren und losen Koppelungen zwischen den politischen Institutionen und Akteuren haben. Das gilt für den Föderalismus, für das direktdemokratische Verhältnis zwischen Volk und Regierung, für die Bundesversammlung und auch für die Organisation des Bundesrates. Diesen Kombinationen verdankt das Land sehr wesent-lich die Stabilität, die Legitimität und auch Funktionsfähigkeit seiner politischen Einrichtungen.
Das will nun kein politisches „Weihnachtslied“ sein. Im Bundesrat ist wohl auch schon friedlicher Weihnachten gefeiert worden als heuer, was nicht unbedingt problematisch sein muss. Erstens weil Politik nun einmal keine Weihnachtsfeier sondern Interssenkampf ist, wo auch Wettbewerb herrschen soll. Zweitens weil wir die sogenannte Zauberformel und die Konkordanz nicht als Harmonieverein verwechseln, übermässsig idealisieren und damit unangemessen und unnötig kritisieren und immer sogleich in Frage stellen, sondern als prekäres Verhältnis von starrer und loser Kopplung verstehen sollen, in dem es auch wackeln kann, wie es gegenwärtig der Fall zu sein scheint. Drittens schliesslich liegt es nicht nur am Bundesrat, wenn es in der politischen Apparatur harzt.
Laufen wir nicht Gefahr, angetrieben durch die Positionskämpfe der Wochen- und Sonntagspresse, durch den Einschaltquotenhunger des Fernsehens und durch den Quatschkolumnismus jeden kleinen Regel-verstoss gegen Konkordanz und Kollegialität und jede umstrittene Ent-scheidung oder Verlautbarung des Bundesrats zu dramatiseren und zu personalisieren und damit die Originalität unseres Regierungsmodells zu verwischen oder gar in Frage zu stellen?
Bestand die ursprüngliche Zauberformel nämlich in der politischen Fried-ensstiftung der historischen Parteien, so existiert ihr „neuer Zauber“ ex-akt in der genannten Kombination von Elementen der starren und der losen Koppelung, die auch den veränderten gesellschaftlichen Ver-hältnissen bisher standgehalten hat. Die Starre garantiert uns eine Regierung, die nicht durch den Machtwillen einer Partei oder gar einer Person manipuliert oder gar aus den Angeln gehoben werden kann. Nicht einmal die Anzahl der Regierungsmitglieder lässt sich verändern. Wo gibt es das in aller Welt? All das will aber nicht heissen, dass dieses „Bundesratskloster“ nicht auch seinen Preis hätte.
Doch die Momente der losen Koppelung in und um unsere Bundesreg-ierung herum machen den Preis jener Starre erträglich. Erstens weil sie garantieren, dass zahlreiche und verschiedene kollektive Akteure, ge-meint sind die Parteien, die Landesteile und neuerdings sogar die Ge-schlechter, eingebunden und beteiligt werden können.Zweitens weil diese Bundsratsmitgliedschaften neben ihrer kollektiven Regierungsverant-wortung (struktursparenderweise) auch Spielräume des Wiederspruchs und der Opposition haben und damit ihre Identität wahren können. Und drittens, weil jene lose Koppelung dazu führt, dass der Bundesrat das Par-lament stark führt und gleichzeitig vergleichsweise unabhängig von Inter-essendrücken handeln kann.
Ohne diese Kombination von Struktur und Flexibilität wäre die grosse Erfindung, dass wir durch einen kleinen Rat regiert werden und nicht ein-em grossen Alphathier nachzulaufen haben, nicht solange intakt geblieben. Gleichwohl müssen die Oberen dieser Erfindung sorgetragen und die Massenmedien sollten nicht jedes Wackeln der Konkordanz unnötig dramatisieren, damit sie nicht der Machtgier einer Partei oder Person verfällt. Im Uebrigen zählt auch die jährlich neue und reihum-gehende Wahl des Bundespräsidenten zu diesen Momenten der losen Koppelung. Sie schafft Freiheitsspielräume aber auch Führungsprobleme, was dann von den Personen abhängt.
Leonhard Neidhart