Ist unser Bundesrat noch eine zeitgemässe Regierungsform?

Die ‚Maulkorbinitiative’ ist nur einer der ‚Steinwürfe’ auf die politische Burg Bundesrat. Man ist dabei, noch andere auszuhecken. So die Wahl durch das Volk, das Verfahren der Kandiatenaufstellung, seine Einzel-wahl im Parlament, die Rücktrittspraxis, die Rolle und Amtszeit des Bundespräsidenten, die kleine Zahl der Mitglieder und die Reorgani-sation der ungleichen Departemente. Und jetzt hat, zu allem Überfluss, ein amtierendes Mitglied die Idee in die Welt gesetzt, die Bundesrats-mitglieder sollten ihre Parteizugehörigkeit ablegen.

Alles in allem ein sonderbares Gemisch. Was steckt dahinter? Wahl-k(r)ampf, uralte und immer wieder auftauchende populistische Aufwal-lungen gegen Die von oben und gegen Bern, oder ist unser Bundesrat wirklich keine zeitgemässe Regierungsform mehr? Gründe für einen Blick auf seine Eigenheiten.

Tatsächlich ist der Bundesrat eine sehr starke Institution geworden. Und das muss er sein und bleiben, weil die sprachgespaltene und aussen-exponierte Willensnation erstens keinen Staatspräsidenten, zweitens kein starkes Verfassungsgericht, drittens keine integrierende Partei als nationale Klammer kennt und schliesslich viertens, weil sich seine Aufgaben, finanziellen Mittel und damit sein Einfluss seit der Gründung vor vollen 150 Jahren weit mehr als vertausendfacht haben. Im ersten Bundesblatt von 1849 kann man nämlich lesen, dass jeder damals nur ein bis zwei Zimmer für einen Sekretär, das Finanzdepartement ein sicheres Gewölbe und der Gesamtbundesrat ein ‚ordentliches Empfangs-zimmer’ und einen Leseraum für Zeitungen erhielten. Das Budget lag zwischen 10 und 20 Millionen, heute sind es rund 50 Milliarden.

Auch kann erinnert werden, dass die alte Eidgenossenschaft nach der Französischen Revolution einem im Inneren und von Aussen gefähr-derten politischen Lotterwerk glich, das keine leistungsfähige nationale Instanz zustandegebracht hatte. Deshalb musste nach dem Sonder-bundeskrieg (1847) 1848 schnell eine handlungsfähige Bundesleitung her. Eine personelle Spitze als Schweizer Landamann oder einen Präsidenten wie die USA wollte man nicht. Also übertrug man den in den Kantonen praktizierten Modus des Regierens mit Räten als Art eines kollektiven Präsidenten einfach und einstimmig auf den Bund. Dass dann jedes der sieben Mitglieder (einige wollten nur fünf) einzeln gewählt würde und nach eigenem Entscheid zurücktreten konnte, galt als selbst-verständlich. Denn man wählte nur bekannte, anerkannte und vertrauens-würdige Leute. Und da die Milizparlamentarier nur temporär in Bern anwesend waren und schon damals über Zeitmangel und Überlastung klagten, war auch klar, dass dieser Bundesrat fest für eine ganze, damals dreijährige Legislaurperidor im Amt bleiben musste und anschliessend grundlos nicht abgewählt werden sollte. Die Romandie war von Anfang an dabei, was zu den Wurzeln der späteren ‚Zauberfomel’ gehört.

Dieses kleine selbständige Gremium erwies sich, zum Glück für das Land, schnell als speditiv arbeitende und deshalb bald anerkannte Instanz. Absolut einmalig ist, dass der Bundesrat in all den 150 Jahren seines Bestehens nie in eine schwere Krise geriet oder eine solche aus-gelöst hätte. Dadurch entstand eine stark bindende Tradition. Ausser der Kantonsregel ist an seinem rechtlichen Kern nie etwas verändert worden. Auch deshalb nicht, weil er als kleiner Rat, der mit verschiedenen, aber gleichgestellten und sich deshalb gegenseitig selbst kontrollierenden Mitgliedern zusammengesetzt werden konnte, zugleich flexibel und starr war, wie später auch die ‚Zauberfomel’.

Was sind die Gründe dafür? Gewiss hängt das mit der glücklichen Kriegsverschonung der Schweiz, mit ihrer gedeihlichen, vergleichsweise krisenarmen wirtschaftlichen Entwicklung, mit der föderalistischen, direktdemokratischen Gewaltenteilung, mit einer pragmatischen poli-tischen Kultur usw. zusammen. Hier geht es um die institutionellen Eigenheiten des Bundesrates.

Eine elementare davon ist das, was als ‚lose Kopplung’, als lockere und damit flexible Verknüpfung verschiedener und deshalb bereichernder Elemente bezeichnet wird. Dazu zählt das Kollegialtätsprinzip, wonach die Mitglieder als Vertreter verschiedener Kantone, Parteien, Konfes-sionen, Sprachen und Geschlechter zwar kollektiv entscheiden und verantworten müssen, gleichwohl aber, und dank des Fehlens einer ‚autoritären’ Führung, eigene Werte, Interessen und Standpunkte ein-bringen und damit widersprechen können, also trotz der Zwänge des Kollektivs lose verbunden sind. Ohne diesen Spielraum wäre die ‚Zau-berformel’ niemals so lange stabil und legitim geblieben, denn auch in ihr sind (wie im Parlament) Regierung und Opposition, Führung und Intra-organkontrolle miteinander verknüpft. Allerdings birgt das starke Wachs-tum der Departemente und ihrer Ämter die Gefahr einer ‚Entkopplung’ der Kollegialität. Aber jedermann kann erkennen, dass das starke Wachs-tum der Dossiers des Bundesrats die kollektive Willensbildung erschwert und konfliktreicher macht. Er darf, ja muss sogar auch Differenzen haben. Ein Grund für einen Systemwechsel ist das nicht, im Gegenteil.

Auch die Rücktrittspraxis und das Verfahren der Wahl können als lose Kopplungen beschrieben werden. Der selbstgewählte Einzelrücktritt hat den Vorteil, dass nie die ganze ‚Klammer’ der Eidgenossenschaft auf-gelöst, sondern nur sukzessiv ‚gelockert’ und erneuert wird. Und weil Alte einzeln ausscheiden, treten Neue auch nur einzeln ein. Damit hängt zusammen, dass die Bundesversammlung ihre Regierungsmitglieder, die sie dann während vier Jahren, und faktisch noch länger, nicht abwählen kann, eben im Einzelwahlverfahren einstellt. Man kann und hat das immer wieder verhöhnt, auch jüngst wieder. Gewiss hat das Verfahren auch Nachteile, aber es verbürgt Kontinuität. Stabilität und speichert politische Erfahrung.

Lose gekoppelt ist der Bundesrat also auch mit dem Parlament, insofern dieses ihn für vier Jahre fest, ohne Abwahlmöglichkeit und ohne dem Instrument der Vertrauensfrage bestellt und ihm grosse Entscheidungs-spielräume überlässt. Dieses lockere Verhältnis ist möglich, weil sich die Elite im Kleinstaat gut kennt, zumindest gut kennen kann, sodass die Prozesse der Information, der Meinungsbildung, der Konfliktregelung und der Kontrolle einfacher, informeller, somit ohne grossen institutio-nellen Aufwand ablaufen können. Auch die Konkordanz und die Rollen-kombinationen im Milizprinzip haben Merkmale der losen Kopplung.

Als Gegenstück dieser schwachen Instiutionalisierungen gibt es aber starre Bindungen, so die kleine Zahl der Bundesräte, das Verfahren ihrer Wahl, die reihumgehende Führung, die ‚Zauberformel’, die langen Amts-zeiten, das Zweikammersystem usw., die gewiss ihre Nachteile haben und deshalb Kritik auslösen. Gleichwohl ist das Bundesratsmodell eine be-währte, gut schweizerische Erfindung, die man nicht leichtfertig in Frau-gestellen sollte. Und warum soll dieses kollektive politische Problem-bearbeitungsverfahren nicht für künftige, möglicherweise grössere Aufgaben tauglich sein?

Wir sollten politisch nicht so ‚verrückt’ sein und zugleich alles wollen: Föderalismus, direkte Demokratie, starke Parteien, Zauberformel, Volks-wahl des Bundesrates, den ‚Maulkorb’, einen führungskräftigen Bundes-rat, eine Opposition usw., weil dann nichts mehr geht. Vielmehr müssen wir akzeptieren, dass es institutionelle Abhängigkeiten gibt. Konkret: Wenn die Parteien und Fraktionen zusammen regieren, dann dürfen sie gegenseitig auch die Aufstellung ihrer Kandiaturen für den Bundesrat beeinflussen. Schliesslich müssen sie mögliche Fehlleistungen auch gemeinsam tragen. Sodann sind Räte und auch der Bundesrat dazu da, um das Volk zu beraten. Und weil wir direktdemokratische Einrichtungen und zudem immer schwierigere Entscheidungen haben, ist dieser Rat-schlag unabdingbar. Zugleich muss der Bundesrat auch regieren und seine Absichten vertreten und durchsetzen können.

Die politische Rechte beschert uns für den ersten Juni einen popu-listischen Urnengang, der die SteuerzahlerInnen nur Geld kostet: Die ‚Maulkorbinitiative’ ist ein Leerlauf, jene über die Einbürgerung stachelt nur Emotionen an und der Gegenvorschlag zur SVP Krankenversicher-ungsinitiative ist überflüssig. Eigentlich gehört ein Maulkorb jenen, die mit populistischer Verbrämung ihre Emotionen, Interessen und ihre Gier nach Macht kaschieren.

Leonhard Neidhart war Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Konstanz und lebt in Zürich.

 

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