Die Angestellten des Volkes: Der Nationalrat
Da Bundeswahlen anstehen, soll ein Blick in den ‚Betrieb’ jenes Gremi-ums geworfen werden, dessen Mitglieder für vier Jahre wieder ‚ange-stellt’ werden wollen, in den Nationalrat. Das ist leichter gesagt, als ge-tan. Denn unser Nationalrat ist ein ‚doppelköpfiges’ und komplexes Sta-atsorgan: Zum einen eine Organisation mit autonom legitimierten, par-teipolitischen veschiedenen, eigenwilligen, teils eigenmächtigen, geltungsbedürfigen oder politisch missionarischen, in vieler Hinsicht wie Ausbildung, Beruf, Geschlecht, Alter und Ambitionen usw. verschied-enen, nur auf Zeit gewählten, nebenberuflich oder noch in anderen Staatsämtern tätigen Mitgliedern, ohne eine starke oberste Führung, aber mit Einfluss, Macht und zahlreichen Aufgaben, was weitreichende Folgen für das Organisieren dieses politischen ‚Betriebes’ bewirkt. Zum anderen fungiert der Nationalrat als Institution, als Element des poli-tischen Systems, dessen andere Elemente wie der Föderalismus, die direkte Demokratie, der Ständerat und das spezielle Verhältnis zur Regierung seine Funktionalität und ‚Macht’ zugleich begrenzend und herausfordernd beeinflussen.
Entsprechend lang und schwierig sieht der Katalog von Fragen aus, die sich stellen. Zunächst auf der individuellen Ebene solche nach den Emotionen und Motivationen, der politischen Einstellung, dem Geltungs-drang, der charakterlichen Veranlagung, der Kompetenz und dem Rollen-verständnis der Mitglieder. Darum kann es jetzt nicht gehen. Denn diese würden sich auch mit den listigsten Befragungen kaum ausloten lassen, weil Parlamentarier (immer beiderlei Geschlechts) sich nicht entsprech-end ausfragen lassen oder nicht die Wahrheit sagen. Transparenter ist dagegen die soziologische Ebene mit Fragen nach Geschlecht, Alter, Bildung, Beruf, Familienstand, Konfession, Sprache, Interesse usw.. Darum geht es auch nicht. Man weiss es.
Im Zentrum wird die organisationale und systemische Ebene stehen, zum einen weil sich daraus das besondere Profil des Nationalrates ergibt, das interessiert und erklärt werden soll. Zum anderen weil sich der Schreib-ende darüber aus den Protokollen und mit Logik, d..h. mit Folgerungen aus Zusammenhängen ein etwaiges Bild machen konnte. Die Leserschaft soll wissen, wie ein solcher Text zustandekommt. An der Provenienz und Produktion unserer Nahrungsmittel sind wir auch zunehmend stärker interessiert.
Bezüglich der Organisation geht es in erster Linie um den Hand-lungs-spielraum des einzelnen Mitgliedes und um Art und Ausmass der intra-organisationalen Arbeitsteilung, weil diese beiden ‚Variablen’, so wird sich zeigen, auch die Prozesse der Information, der Kommunikation, den Konfliktaustrag, die Konsensbildung und Mehrheitsfindung bzw. Beschlusssfassung und die ganze Organisationskultur beeinflussen.
Und was die Systemebene betrifft, gilt es zu zeigen, wie die ‚Rolle’ bzw. die Eigenheiten dieses Staatssorgans, so seine Funktionen, die Möglich-keiten seiner Aufgabenerfüllung und sein Einfluss auf die Politikgestalt-ung, nicht zuletzt auch die Rückwirkungen auf die Wahlen und damit auf die Parteien durch den Zusammenhang mit den anderen Institutionen und damit der Logik des Ganzen als der Umwelt oder dem Kontext bestimmt und erklärt werden können. Nicht zu vergessen, dass die auch internationale Aussenumwelt, vor allem die EU, aber auch die Globalisierung den Handlungspielraum des Nationalrates nolens volens immer stärker beeinflusst.
Noch eine kurze Anmerkung zur ‚Produktionsmethode’ dieses Textes. Denn man sollte sich ein paar derartige Reflexionen kosten lassen, will man seine Alltagsvorstellungen über diesen Rat präzisieren bzw. verwis-senschaftlichen. Erstens: Es geht um einen Blick von Aussen, der sich auf Protokolle stützt, nicht um Wahrnehmungen der Ratsmitglieder von Innen. Zweitens: Wie jede schwierige Arbeit benötigt auch diese ‚Bear-beitung“ eine Theorie, eine Sichtweise, wie man die Dinge sehen und er-klären will, samt einem analytischem Instrumentarium und einem Begriffsapparat. Wie schon erkennbar geworden ist, stützt sich dieser Versuch auf systemisches Denken. Dabei spielen die Prägungen durch Umwelten, durch Kontexte (Zusammenhänge) oder Rahmenbedingungen eine besondere Rolle, vor allem für die Politik.
Schliesslich drittens: Das Profil der Mitgliedschaftsrolle und das Mass der Arbeitsteilung der Organisation Nationalrat sind als die ‚betriebsbe-stimmenden und prägenden Faktoren’, sodann zu erklären. Das heisst, nach Ursachen zu fragen, warum sie so sind, wie sie sind. (Auch das zählt zur Logik.) Sie sind so, und damit vervollständigt sich das analy-tische Konzept dieses Versuchs, vor allem erstens aus historisch-gene-tischen, zweitens aus kleinstaatlichen, drittens aus systemischen und vier-tens aus Gründen der umfangreicher und komplizierter gewordenen ge-sellschaftspolitischen Aufgaben des Bundes und damit des Nationalrates.
Diese Ursache-Wirkungszusammenhänge sollen jetzt skizziert werden. Plangemäss zunächst ein paar Reminiszenzen zu historisch-genetischen Prägekräften der Eigenheiten des Nationalrates. Man kennt sie. Sie wirk-en in der Schweiz generell stark. Weil die Alte Eidgenossenschaft keine zentrale Gewalt, keinen Monarchen zugelassen hatte, ist der Nationalrat keine, einem König zugeordnete ‚Kammer’ top down, sondern ein Rat, eine Vertreterversammlung bottom up geworden. Dieses Organisations-muster ‚Rat’ konstituiert eine Struktur, damit die Position des Einzelnen, die inneren Prozesse und den Grad der Arbeitsteilung. Solche Räte sind sich selbst kontrollierende Gremien aus (formal) Gleichberechtigten, die faktisch natürlich ungleich ‚stark’ sein können, mit flacher Hierachie, in denen viele Gruppen Platz haben, beraten und Verantwortung mittragen sollen. (Der ‚Idealtpyus’ ist der Bundesrat.) Sie sind ‚auf Dauer gestellte’ Versammlungen, in denen Macht geteilt, damit verkleinert wird, so dass Konflikte weniger bedrohlich werden. Diese ‚Theorie des Rates’ prägt den Parlamentsbetrieb, der (auch) deshalb kein klassischer Parlamenta-rimus geworden ist. Und weil die Schweiz eine Willensnation ist, muss auch der Nationalrat als Willens-Nationalrat wirken.
Noch etwas zur Entwicklungsgeschichte. Wichtige Regeln des National-rates, (schon sein Name wirkte damals progressiv und integrativ und ver-mittelte ihm wohl ein Gefühl von Priorität), so die Anzahl seiner Mit-glieder, ihre Nebenamtlichkeit, das Zweirätesystem, die Sessionen und das Verhältnis zum Bundesrat sind seit seiner quasi revolutionären Grün-dung in 1848, somit seit rund 15o Jahren, unverändert geblieben und damit alt. Das erzeugt traditionale Legitimität und prägt. Gleichwohl haben zunächst systemische Änderungen (so das Gesetzesreferendum 1874, der Proporz 1918 und damit der Wandel des Parteiensystems, das Frauenstimmrecht 1972) und dann der stete Zuwachs der Bundesauf-gaben den Rat zu Revisionen seiner Geschäftsordnung, vor allem Ausbau der (arbeitsteiligen) Kommissionen und zu neuen Verhandlungs-mustern bzw. Konsensfindungen gezwungen.
Die Spannungen nach dem Ersten Weltkrieg und die Verfeindungen durch den Generalstreik führten in den 20er und frühen 30er Jahren im Nationalrat zu Auseinandersetzungen, wie sie in gleicher Härte nach 1945 kaum mehr vorkamen. Abgesehen vom langen Feilschen vor allem um eine Bundesfinanzordnung, auch um die Milchpolitik, war das bundesparlamentarische Leben der 50er Jahre ruhig, bis in den 60er Jahren die Mirageaffaire, die negativen Folgen des Wirtschaftswachstums und die ‚Überfremdungsbewegung’ aktiv wurden. Damit kam die ‚poli-tische Maschine’ der Schweiz mit Volksinitiativen und Referenden, mit der Entstehung neuer Parteien, auch mit dem Anschwellen persönlicher Vorstösse im Nationalrat in Fahrt. Die Bundesversammlung wollte über die Richtlinien der Regierungspolitik reden und mehr Einfluss auf die vom Bundesrat monopolisierte Aussenpolitik gewinnen. Später kam es immer wieder zu Diskussionen über eine Parlamentsreform und zu Kritik am sog. Milizsystem. Die Totalrevision der Bundesverfassung änderte am Nationalrat nichts. Seit 2002 gibt es ein Parlamentsgesetz und revidierte Geschäftsordnungen der Räte.
Jetzt zur Prägungs- -und Erklärungskraft der Kleinstaatlichkeit. Dazu erinnere sich zunächst daran, dass der politische Betrieb des Kleinstaates Schweiz, somit die Parteien, die Parlamente, die Regierungen und Ver-waltungen, auch die Führungsgruppen und die Gelder durch seine starke, innere, horizontale Vervielfältigung und Aufteilung durch die Geogra-phie, durch die vielen Kantone und Gemeinden, durch die Sprachen so-wie durch die vertikale Dreiteilung im Föderalismus einerseits noch ein-mal stark verkleinert, andererseits und zugleich aber multipliziert und damit ‚vergrössert’ wird. Zum einen Teil erleichtert, vereinfacht und ver-billigt das die Verfahren und die Lösung politischer Probleme, zum an-deren Teil aber erschwert es sie, macht sie konfliktreicher, organisa-torisch aufwändiger und teurer.
Denn Kleinheit kann Ressourcenknappheit, Abhängigkeit, besondere Risiken, Unsicherheit, Enge und damit Konflikte bedeuten, aber auch kleinere Aufgaben, somit einfachere Verfahren und Institutionen wie die direkte Demokratie, das Miliz- und Sessionssystem und kleine regierende Räte möglich machen. Analoges gilt für die Vielheiten und Verschieden-heiten. Auch sie erzeugen solche Doppeleffekte. Zum Teil befreien sie aus kleinstaatlicher Enge, kompensieren deren Nachteile, indem sie zum einen Unabhängigkeit und Konfliktschranken erzeugen. Auch zwingen die Verschiedenheiten, vor allem jene der Sprachen, zur Rücksicht, auch im Parlament. Sie brechen und mässigen den Parteienkampf, halten ihn paradoxerweise aber vervielfältigend auch am Leben. Zum anderen aber erhöhen sie den Aufwand an Kommunikation, Repräsentation, Koordi-nation, Konfliktregelung und auch Legitimation. Deshalb haben wir in Bern aus kleinheitsbedingten Sparsamkeits- und Einfachheitsgründen zwar zahlenmässig kleine, nur temporär und nebenamtlich tätige, gesetz-gebende Räte, dennoch aber ein voll ausdifferenziertes und damit auf-wändiges Zweirätesystem. Auch das ‚vergrössert’ bzw. verdoppelt und ‚verkleinert’ zugleich die parlamentarischen Funktionen und Prozeduren. Ausserdem: Im Nationalrat werden wichtige Voten zweisprachig gehalten und neuerdings auch italienisch übersetzt. Diese Mehrsprachigkeit be-wirkt zusätzliche Anforderungen an die Mitglieder und prägt auch die Parlamentskultur.
Die folgende Feststellung ist trivial, dennoch fundamental: Die Anzahl Mitglieder prägt eine Organisation in allen ihren Komponenten. Diese Logik lässt sich auf den Nationalrat anwenden, denn er ist mit seinen 200 Mitgliedern zahlenmässig vergleichsweise klein. Hinzu kommt wieder, dass diese wenigen 200 (immer beiderlei Geschlechts) durch ihre Sprach-verschiedenheit, durch die vielen Regions-, Kantons-, Partei- und Frak-tions-, Berufs-, Geschlechts- und anderen Zugehörigkeiten noch einmal unterteilt, damit als einzelne Gruppen ‚verkleinert’, in ihrer Summe aber eben auch wieder zahlenmässig vergrössert werden. Das prägt die Stel-lung und den Handlungsspielraum des Einzelnen, die Kommunikations- und Konfliktprozesse, das Ausmass der Arbeitsteilung und zugleich der Koordination im Rat und damit die Funktion der Kommissisonen und des Plenums sowie sein Verhältnis zu den anderen Staatsorganen.
Um mit der Stellung des Einzelnen im Rat zu beginnen: Je kleiner und insofern ‚schwächer’ eine Organisationen ist, desto stärker wird sie auf die Leistungen ihrer einzelnen Mitglieder angewiesen, um ihre Funk-tionen erfüllen zu können. Um diese grösseren individuellen Leistungen zu motivieren, muss ihm die Organisation mehr Freiheit, mehr Spielraum und andere Belohnungen wie Ehre oder zusätzliche Beschäftigungs- bzw. Einkommensmöglichkeiten zubilligen. Überhaupt verlaufen in kleinen Organisationen alle Prozesse personenbezogener, damit unbürokratischer, was aber auch Willkür, Machtpositionen, Reibungen und Konflikte aus-lösen kann und in unserer politischen, auch der Parlamentskultur ent-sprechende Vorkehrungen der Unabhängigkeitssicherung sowie der individuellen Disziplinierung und Konfliktprävention notwendig gemacht hat. Das ist ein Grund dafür, dass es im Nationalrat, im Ständerat ohne-hin, gesittet her und zugeht, Regelverletzungen kaum vorkommen und der Präsident eigentlich nie zu Ordnungsrufen oder härteren Sanktionen greifen muss.
Vielleicht ist es Schweizer Parlamentariern nicht bewusst, welchen ver-gleichsweise grossen individuellen Handlungsspielraum sie haben. Und dieser wird noch durch das Milizprinzip gestärkt, weil sie aus ihrem Hauptberuf zusätzliche parlamentarische Autorität gewinnen können. Gleichwohl fühlen sich viele eingeschränkt, wohl weil sie als Nebenbe-rufsparlamentarier konkurrierenden Rollenerwartungen ausgesetzt sind, die sie beide nicht immer wunschgemäss und optimal erfüllen können.
Es ist so: Ein Schweizer Parlamentsmitglied hat ordentlich Redemög-lichkeiten. Jedes kommt während einer Session im Plenum zu Wort. Weil man qua Milizprinzip erkennbar in einen gesellschaftlichen Bereich eingebunden ist, vertritt man dessen Interessen auch und fühlt sich auch dazu verpflichtet. Einen strikten Fraktionszwang gibt es nicht, und während den Gesetzesberatungen im Plenum werden häufig noch Ab-änderungsanträge gestellt. Besonders deutlich zeigt sich dieser indivi-duelle Spieltraum oder ‚Spieltraum’ an der Masse persönlicher Vorstös-se. Im Durchschnitt und pro Session produzieren sie nämlich rund 250 parlamentarische Initiativen, Motionen, Interpellationen, Postulate und Anfragen. Dabei kann man im Plenum zu Wort kommen. Die Parla-mentselite hat solche Aktivitäten zwar nicht nötig, aber für den Normal-parlamentarier zählen sie offenbar zu ihrem Rollenverständnis. In einem grossen Parlament, z.B. im Deutschen Bundestag mit seinen über 600 Mitgliedern oder in Frankreich mit über 500, wären solche individuellen Aktivitäten unmöglich.
Vermutlich spielen dabei auch der Sessionsmodus und das Milizprinzip eine Rolle. Man ist nur temporär in Bern, deshalb jeweils vielleicht besonders erwartungsvoll, aber auch entsprechend enttäuschungsanfällig. Zudem engt die Sessionspraxis zeitlich stark ein. Sie diszipliniert auch. Und obwohl im Bundesparlament, fungiert man nur als ‚Saisonnier’, fühlt sich deshalb manchmal einflusslos und nur zu Zu- und Abstim-mungen über Vorlagen gezwungen, die wesentlich vom Bundesrat konzipiert worden waren und ausserdem einem referendumspolitischen Konsenszwang unterliegen. Deshalb möchte man mit einem Vorstoss eine Spur hinterlassen und Erfüllung erfahren.
Auch dabei wirken ambivalente Effekte der kleinen Zahl und der Viel-heit. Weil wir viele und häufig kleine Nationalratswahlkreise und viele Parteien haben, ist die Anzahl der dort gewählten und nach Bern ge-schickten Parteienvertreter klein. Deshalb kennt man sie meistens. Diese Bekanntheit schafft einerseits Prestige, Ehre und weitere Beschäftigungs-chancen, andererseits muss sie gepflegt werden, eben auch durch per-sönliche Auftritte in Bern. Und wenn dort das Mitglied der Partei A einen persönlichen Vorstoss lanciert, dann wollen das Mitglieder der Parteien B, C. und D, die Welschen und die Berner, die Bündner, die Innerschweizer oder die Frauen dem nicht nachstehen. Der Multiplikator ist offensichtlich. Viele Nationlräte machen dabei mit und ebenso viele sind ungeduldig und latent unzufrieden über die Menge der persönlichen Vorstösse und Wortbegehren. Deshalb entschuldigt man sich oft, wenn man auch noch ,kurz’ das Wort ergreift.
Funktions- und wirkungslos ist dieser grosse Strauss persönlicher Vor-stösse nicht, obwohl vieles schlicht telefonisch erledigt werden könnte. Sie entsprechen offensichtlich einem Bedürfnis der Parlamentarier und sind inzwischen zu einen Kennzeichen des individualistischen und zu-gleich pluralistischen, weniger, oder nicht nur, durch Fraktionen und Par-teien gesteuerten eidgenössischen Parlamentsbetriebes geworden. Sie stif-ten den Parlamentsmitgliedern Sinn, transportieren Bedürfnisse, Proble-me, Interessen, Ideen, Wissen und Erfahrungen aus der Gesellschaft in die Verwaltung, tragen damit zur Responsivität der Bundespolitik bei. Sie wirken kontrollierend auf die Verwaltung und zwingen die Bundes-räte, immer wieder persönlich im Plenum Rede und Antwort zu stehen.
Die Kleinheit der Verhältnisse beeinflusst auch das Ausmass der ‚poli-tischen’ Arbeitsteilung und der funktionalen Differenzierung als den Praktiken zur Leistungssteigerung. Denn wegen der Einfachheit der kleinen Verhältnisse sind diese zum Teil weniger notwendig; wegen der kleinheitsbedingten Knappheit der Mittel zum Teil aber weniger mög-lich, sodass andere Verfahrensproblemlösungen gesucht werden mussten. Das klingt abstrakt, aber kann auch zur Heuristik der Eigenheiten uns-eres politischen Betriebes angesetzt werden. Denn, um es ganz kurz zu sagen, das Zusammenlegen der knappen Kräfte in kollektiv regierende Räte, auch in der Konkordanz oder mit den Doppelaufgaben durch das Milizprinzips einerseits und das grössere Ausmass von individuellen Funktionen und Verantwortungen andererseits , wie sie in der direkten Demokratie für den Einzelnen und im Föderalismus für Kollektive institutonaliert und im Liberalismus kulturell abgestützt sind, fungieren als solche sparsameren alternativen Problemlösungsstrategien.
Das zeigt sich auch im Parlamentsbetrieb des Bundes. Dort fungieren der Verzicht auf die funktionalspezialisierten Institutionen des reinen Parlamentarismus also auf die Vertrauenfrage, das exekutive Auflösungs-recht, auf die Trennung von Regierungsmehrheit und Opposition und übrigens auch die Funktion eines selbständigen Staatsoberhauptes als solche struktursparenden Problemlösungsstrategien.
Auch die direkte Demokratie lässt sich als eine besondere politische Arbeitsteilung zwischen den Stimmberechtigten und den Abgeordnenten, moderner formuliert, als Beziehung zwischen dem ,Prinzipal und den Agenten’, beschreiben. Jeder Stimmberechtigte kann so, gewissermas-sen auch als ‚Milizpolitiker’ in Doppelrollen (Beruf und Politiker, als Entscheidender und Entscheidungsbetroffener) agieren. Er behält als Prinzipal damit Entscheidungsrechte, die das Parlament (der Agent) dann nicht hat, für sich. Die daraus entstehenden manifesten und latenten Effekte auf den Parlamentsbetrieb sind stark. Zum einem muss es die Interessenberücksichtigung der verschiedenen Interessengruppen oder Prinzipale im Volk durch die parlamentarischen Auseinandersetzungen deutlich machen, zum anderen darf sie diese nicht polemisch übertreiben, um dadurch keine unberechenbaren Reaktionen im Volk auszulösen, sondern muss trotz Gegensätzen und Konfliken zu mehrheitsfähigen Lösungen, zu Kompromissen finden, sofern das Geschäft dem Referendum untersteht. Nun am Rande vermerkt sei, dass dies auch die Beteiligung und die Ergebnisse der Wahlen zum Nationalrat beeinflussen, die Kleinheit und Verschiedenheit sowie das Milizprinzip übrigens auch.
Zum immer wieder krititsierten Milizprinzip bzw. zur nur nebenberuf-lichen Ausübung der Rolle eines Parlamentariers nur ein paar kurze Bemerkungen. Es hat, wie jede Problemlösungen, eine zwei Seiten. Generell bindet es den politischen Prozess stärker in die Gesellschaft ein und kann auch die Affekte der politischen Parteien brechen. Und in dem Masse, wie ein Parlamentarier zusätzlich einen richtigen Beruf ausübt, kann er das dabei gewonnene Wissen in den parlamentarischen Prozess einbringen. In Parlamenten, wo das nicht der Fall ist, müssen sich die Abgeordenten entsprechend spezialisieren. Weil die politische Kultur der direkten Demokratie keine Berufsparlamentarier will und die Schweiz in den Städten und Kantonen jede Menge Politiker und Parlamentarier hat, der Bund sogar über zwei gesetzgebende Räte verfügt, müssen sich National- und Ständeräte alternative Lösungen suchen, wenn sie ihre Leistung erhöhen wollen. Eine volle Professionalisierung ist nicht mehr-heitsfähig, wohl auch nicht notwendig, zumal ein Teil der Bundesparla-mentarier bereits Berufspolitiker und politische Funktionäre sind.
Nimmt man den Nationalrat jetzt unter dem Aspekt der internen Arbeits-teilung und funktionalen Differenzierung in den Blick, dann lässt sich dem bereits vermerkten Besonderheiten (Stellung des Einzelnen, Ver-zicht auf die Instrumente des Parlamentarismus) noch Folgendes anfügen. Der Leistungssteigerung des Milizparlamentes dient zunächst die intensiv Zusammenarbeit von Parlament und Regierung. Durch die Gesetzes-Botschaften bereitet der Bundesrat die Vorlagen weitgehend beschlussreif vor. Er muss das tun, weil das unsichere Parlament so will. Dazu gehören dann auch das vorparlamentarische Anhörungsverfahren, gewissermassen eine dritte Säule der Repräsentation und der Beizug von externen Expertenkommissionen.
Sodann gibt es wohl kaum ein Parlament, in dem Mitglieder der Regier-ung umfassender und intensiver die parlamentarische Entscheidungs-findung begleiten und führen. Die Räte murren, wenn die Departe-mentschefs unregelmässig an die Kommissionssitzungen kommen. Hinzu kommt die besondere, gewissermassen demostrative Stellung, die Plenumsitzungen für den Berner Parlamentsbetrieb haben. Die Sessionen sind ja Plenumssitzungen, in der möglichst viel Öffentlichkeit hergestellt werden soll, weil man in der restlichen Zeit ja nicht in Bern ist. Wohl finden zwischenzeitlich die Kommissionsitzungen statt, aber darüber erfahren die Öffentlichkeit und die Interessierten wenig. Umso stärker richtetet sich die Aufmerksamkeit auf die Plenumsession. Dort sind die Fachminister praktisch permanent anwesend und begleiten die artikelweise Gesetzesberatung. Wohl werden diese Gesetzesvorlagen von den Kommissionen intensiv vorberaten, doch geht die Arbeitsteilung zwischen Kommissionen und Plenum in den Räten nicht so weit, dass im Plenum nicht auch noch Abänderungsanträge gestellt werden können, die dann eben die Parteienvertreter und auch den Bundesrat auf den Plan rufen. Bisher war es geübte Praxis, dass bei solchen artikelweisen Auseinandersetzungen nach dem Sprecher der Kommisison meist der zuständige Bundesrat das letzte Wort hat. Bezeichnenderweise hat der National jetzt ihren Kommissionssprecher an die letzte Stelle gesetzt. Dennoch ist die dauernde Anwesenheit eines Bundesrats auch stilprägend. Die Milizparlamentarier wagen es und können es oft auch nicht, einem Minister in einer Härte an den Karren zu fahren, wie man sich es einem Parteigegener vielleicht herausnimmt.
Diese starke Stellung des Plenums ist auch eine Folge der geringeren Arbeitsteilung und funktionalen Differenzierungen, mit denen der Natio-nalrat Sessions-Milizparlament auskommen muss. Der Individualismus der Mitglieder und der oben genannte Pluralismus der Zugehörigkeiten muss irgendwo integriert und gebunden werden. Und das sind die stän-digen Kommissionen des Nationalrates, die er im Laufe der vergangenen Jahrzehnte aufgebaut hat. Sie sind die faktischen Entscheidungsinstanzen und haben einen real höheren Stellenwert, als z.B. die Kommissionen bzw. Ausschüsse des Deutschen Bundestages, in denen überwiegend ‚gesegnet’ wird, was die ihnen vorgelagerten Arbeitsgruppen der Frak-tionen beschlossen haben. Dieser Vergleich macht auch die Besonder-heiten des Nationalrates erkennbar. Im Deutschen Bundestag kommt ein einfaches Mitglied im Plenum praktischn nie zu Wort und das Plenum sanktioniert in aller Regel die Entscheidungen der Regierungs-parteien. Die Parlamentsmitglieder sind Berufspolitiker und müssen sich als Parlamentarier sachlich spezialisieren, um ihre Erfüllung zu finden. Dieses Spezialwissen bringen sie dann in die Arbeitsgruppen der Fraktionen ein.
Unser Nationalrat hat auch rund 70 temenspezifsche Arbeitskreise, die aber bedeutungslos sind. Wichtig sind die Kommissionen, weil dort der überhaupt verfügbare Sachverstand organisiert und durch die Beträge der Bundesräte, der Amtsleiter oder durch externe Sachverständige verstärkt wird und weil in den Kommissionen des Schweizer Parla-mentes wohl auch die Interessen aufeinandertreffen, aber nicht wie im Deutschen Bundestag Regierungsmehrheit auf die Oppositionsparteien. Die Regierungskonkordanz wirkt sich auch auf den Parlamentsbetrieb aus, wo in den Kommissionen die Regierungs- und Oppositionsfraktionen funktional nicht getrennt sind, sondern sich einigen müssen.
Das heisst, sie können sich als solche kaum schlagkräftig organisieren und wirksam Entscheidungen vorbereiten. Diese Funktion liegt deshalb über-wiegend in den Händen der Experten der Regierung und Verwaltung. Allerdings hat der Nationalrat inzwischen seinen Kommissionen stark ausgebaut und weil dort nicht die Regierungsparteien gegen die Opposition stehen, sind sie zu kleinen ‚Arbeitsparlamenten’ geworden. Aber weil der Nationalrat klein ist, sind auch die Kommissionen zahlenmässig klein, was die Möglichkeiten der Arbeitsteilung begrenzt und zu Mehrbelastungen einzelner Mitglieder führen kann.
Dank der kleinen Mitgliederzahl kennt man sich gegenseitig, man kennt auch mit Mitglieder der anderen Kommissionen und man kennt die Bundesräte und Chefs der Bundesämter, was den Austausch von Informationen und auch die Kontrolle erleichert. Im übrigen führt diese kleine Zahl auch dazu, dass die National- und besonders die Ständeräte in ihren Wahlkreisen bzw. den meisten Kantonen persönlich bekannt sind, was auch Auswirkungen zeitgt. Überhaupt laufen in kleinen Organi-sationen alle Prozess stärker personenenbezogen ab, mit allen Vorteilen und Nachteilen, die damit verbunden sind. Ein kleines Parlament mag an Grenzen der Leistungsfähigkeit stossen, aber es kann auch mit ein-facheren, weniger bürokratisierten Organisationen und damit mit effizienteren Prozessen und Funktionen auskommen. So gesehen ist der Nationalrat ein hocheffizientes Gremium, das sowohl die Gesetzes-vorbereitung wie auch die Verwaltung scharf im Auge hat.
Umgekehrt stärkt jene kleine Mitgliederzahl und ihre Aufteilung in Spra-chen, Kantone und Parteien die Stellung des einzelnen Abgeordneten. Weil der sich zahlenmässig kleine Nationalrat weniger stark durch Fraktionszwänge und andere Formen der Arbeitsteilung organisieren muss, kann er die Mitglieder auch weniger einbinden und kontrollieren. In keinen Parlament der Welt haben die Einzelmitglieder gleichermassen viele persönlichen Einflussmittel (parla-mentarische Initivative, Motion usw.) und niergends werden sie so häufig gebraucht. So verzeichnet der Nationalrat rund 250 persönliche Vorstösse pro Session. Mit der relativen Autonomie der Einzelmitglieder wächst auch deren Redebedürfnis und ein kleiner Rat gibt dafür auch mehr Spielraum. Das stärkt die Stellung des Plenums, in dem einzigartiger-weise praktisch alle Mitglieder einmal zu Worte kommen können und in dem immer wieder Abänderungsanträge gestellt werden und auch gegen den Bundesrat entschieden werden kann. Man vergisst oft, dass die Sessionen in Wirklichkeit Plenumssessionen sind und wahrscheinlich ist es auch diese temporäre Präsenz unserer Abgeordneten in Bern, dass ist ein besonders Bedürfnis haben, in jenen Wochen mit einem persönlichen Vorstoss eine Spur zu hinterlassen. Der Nationalrat ist somit zur Hälfte ein Rede- und zur anderen Hälfte ein Arbeitsparlament.