Der neue ‚Schweizerspiegel’ des Historikers Jakob Tanner
Ist die Jahrhundertgeschichte in unserem Land, wie sie Jakob Tanner im Alleingang und mit grossem Engagement vorlegt, eine wissenschaftliche Anmassung oder eine intellektuelle Spitzenleistung? Wohl beides zugleich, jedenfalls ein politisch-kulturelles Jahresereignis. Tanner hatte den Mut, die immense Kraft und den kritisch strengen Geist für ein solches Vorhaben, das innere und äussere Zusammenhänge der Schweiz mit einer bisher nicht gekannten Präzision ausleuchtet. Das weckt Aufmerksamkeit und Interesse. Denn der letzte Teil der ‚Geschichte der Schweiz im 20 Jahrhundert’ ist noch nicht Geschichte. Die mittlere und ältere Generation der Lesenden und auch der schreibende Historiker waren ‚Täter und Opfer’. Vieles haben sie noch selber beobachten können, und wenn wir lesen, was Tanner bei anderen Autoren gelesen hat und uns berichtet, dann sind wir nur noch Beobachter ‚dritter Ordnung’. Selektiv wahrnehmen und interpretieren tun alle alles, affirmativ oder kritisch, der Verfasser und der Rezensent auch.
Deshalb ist Geschichtsschreibung immer die mehrstufige Auswahl aus einer unübersehbaren Jahrhundertfülle von Handlungen und Ereignissen. Um sie in Worte fassen und ordnen, also nicht nur chronologisch aufreihen zu können, benötigt der Historiker ein Konzept und eine Terminologie. Wie sah Tanners Konzept aus, nach welchen Kriterien hat den Stoff ausgewählt und seine Befunde erklärt und bewertet? Moderne Begriffe verwendet er selbstverständlich auch. Tanner kann mit einer sehr präzisen und ausdruchstarken Sprache arbeiten.
Mit der etwas ausholenden Einleitung will er die Leserschaft auf seinen Weg bringen. Zentral für sein Konzept ist ein Begriff der Moderne ‚als Bezeichnung für eine ambivalente und gebrochene Epoche, in der sich die Gesellschaft widersprüchlich ausdifferenziert und in der homogenisierende und harmonisierende Gemeinschaftsvorstellungen immerzu untermindert werden. Er regt zur Frage an, wie soziale und politische Akteure auf diese Unsicherheit und Unübersichtlichkeit reagieren in der Licht- und Schattenseiten zusammengehören’, konkret wie der Kleinstaat Schweiz damit fertig geworden ist. Deshalb ‚werden in diesem Buch,’ und das ist der rote Faden, ‚immer wieder die Spannungen zwischen Demokratie, Kapitalismus und der National-mythologie’ angesprochen. Er will ‚Gegenläufigkeiten, Such-bewegungen, Umwege, Verwerfungen und Ungleichzeitigkeiten (Ambivalenzen) in die historische Erzählung’ integrieren.
Jedes, auch dieses Konzept ist aspektselektiv oder eben ambivalent. Obwohl Tanners Herangehensweise sehr spannend ist, geht für den Rezensenten, der sich noch an die Bombenabwürfe auf Schaffhausen erinnern kann und noch mit zwei Kühen vor einem eisenbreiften Wagen auf Äcker gefahren ist, die Dramatik der Veränderungen in unseren Land mit den Ambivalenzanalysen etwas unter.
Zu Tanners Stärken gehören die ökonomischen Analysen, während er zur Beschreibung unseres Nationalbewusstseins und der politisch kultu-rellen Konstitutionsprozessen mit wechselnden Begriffen der National-mythen, der Kollektivstereotypen, der Sonderfall-Erzählungen, der nationalen Narrativen, der Selbstbeschreibung oder der Imaginationen eher Mühe hat. Diese kann man eben nicht quantifizieren. Er unterschätzt sie als ‚emotionale Mobilisierungsressoucen’ aber keineswegs, ist dabei aber überwiegend kritisch. Die ‚Geistige Landesverteidigung’ von 1939 lässt ihn lange nicht in Ruhe. Auch zeige die lange Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie sich Mythen nicht zerstören, aber umdeuten lassen. Sie hätten dazu beigetragen, dass die Schweiz auf die Herausforderungen der Moderne reagieren vermochte, und dass sich damit ‚neue Möglich-keiten für innere Strukturbildung und gewinnbringenden Aussenver-flechtungen (z.B. für die Attraktivitätssteigerung des Finanzplatzes und des Fremdenverkehrs usw.) ergaben’. Auch sei zu sehen, wie das ‚Land viele Probleme, die es verursachte und sich konfrontiert sah, hinter einem grossen Bildschirm von Mythenerzählungen’ verschwinden lassen konnte.
Neben der Tatsache und der Selbstbeschreibung der Kleinstaatlichkeit mit ihrer nicht kleinen Wirtschaft will Tanner auch den ‚transzendentalen Wahrheitsanker der Volkssouveränität’ und die direkte Demokratie hinterfragen. ‚Die Volkssouveränität liess sich und lässt sich (trotz verschiedener Missbräuche) nicht kleinkriegen.’ Aber internationale Abhängigkeit beschränkt die Souveränität. ‚Die Vorstellung, ein Land könne da, wo es in der internationalen Arbeitsteilung etwas zu holen gibt, Ja sagen, und gleichzeitig wichtigen Grundlagen der europäischen Integration ablehnen, ist realitätsfremd.’
Das in einem deutschen Verlag erschienene, 572 dicht gefüllte Seiten Text umfassende Buch ist in drei Teile gegliedert und mit vielen präzisen Untertitel hilfreich strukturiert. Unter dem Titel ‚Robuster Kleinstaat’ geht es im ersten Teil (auf 140 Seiten) um die ersten zwanzig Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Im zweiten, 200 Seiten starken Teil (‚Bedrohte Nation, offene Volkswirtschaft’) behandelt Tanner die anschliessenden Jahrzehnte bis in die Mitte der 60er Jahre. Mit der Bezeichnung ‚Widerwillige Bewegung’ führt der Autor seine Leserschaft auf 290 Seiten schliesslich bis in die Gegenwart hinein.
Im ersten Teil zeigt der vielseitig kompetente Historiker, wie die durch den sozioökonomischen und politischen Wandel entstehenden ‚Ambiva-lenzen’, also die Fortschritte, Verluste und Konflikte, schon um 1900 begannen, sich bis zum Ersten Weltkrieg stabilisierend fortsetzen, mit den Kriegsfolgen und dem Generalstreik 1918 dann aber härter wurden. Dabei kommt alles noch vorfindbare ausführlich zur Sprache, also die Entwicklungen in der Parteienlandschaft, in der Gesellschaft (Asylwesen, ‚Überfremdung’), in der Industrie und den Banken, im Verkehr und auch in den Aussenbeziehungen und der Neutralität u.a.m.
Schon um 1900 gehörte die Schweiz mit ihrer ‚bürgerlichen Gesellschaft’ zu den am stärksten industrialisierten Ländern der Welt. Damals habe die Schweiz Mühe gehabt, ihr Kleinwerden zu akzeptieren, dann die damit verbundenen Schwächen aber kompensiert. Der Nationalismus in den Nachbarstaaten hätte auch hierzulande das Bedürfnis nach einem identitätsstiftenden Geschichtsbild geweckt mit dem 1. Mai und dem 1. August seien fast gleichzeitig zwei Traditionen erfunden worden. Einen uneingeschränkten nationalpatriotischen Konformismus habe es noch nicht gegeben, was sich auch im Kunststreit über Hodlers Fresken im Landesmuseum gezeigt habe. Dabei ‚kollidierte ein staatsverklärendes, nationalmoralisches Retro-Design eidgenössischer Staatswerdung mit dem Versuch, die historische Willensnation Schweiz die avantgardistische Formsprache der modernen Kunst zu übersetzen’. (Analoges kam immer wieder und kommt auch gegenwärtig wieder vor.) Dass der Erste Weltkrieg, der Landesstreik und Klassenkämpfe ausführlich behandelt werden, gehört selbstverständlich zu Tanners schreibraum-beanspruchendem Ambivalenzkonzept.
Der zweite Teil über ‚Bedrohte Nation, offene Volkswirtschaft’ erstreckt sich von den 30er Jahren über den Zweiten Weltkrieg bis in die Mitte der sechziger Jahre hinein. Am ausführlichsten sind die sozioökonomischen Teile. Darüber können nur ein paar ausgewählte Zwischentitel Auskunft geben, damit dem Rezensenten etwas Platz für die jüngste Zeit übrig bleibt. Jener zweite Teil beginnt mit ‚Dissonanzen der Moderne um 1925’. Es folgen Abschnitte u.a. über ‚Finanzplatz, Steuerwettbewerb, Wirtschaftsfestung’, über ‚Nationale Konflikte und die ¨Geistigen Landesverteidigung¨, (‚Die Pathosformeln eines Philipp Etter wiesen eine brisante Ambivalenz auf.’) über ‚Geschlechterordnung, Frauenbewegung, Arbeitsmarkt’, dann über ‚Bauern- und Bürgerblock und die Konfron-tation nach links’, über die ‚Bankenrettung und die Frankenabwertung’ (1936), die ‚Frontenbewegung’, die ‚Überfremdung’, über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, über die Flüchtlingspolitik und dann über das ‚Wirtschaftswachstum und Kalter Krieg’.
Dann kann die ordentlich geforderte Leserschaft vieles (so die Zwischentitel) über ‚Konkordanzdemokratie und soziale Sicherheit im Männerstaat’, über ‚Luftspiegelungen und Kultur der Bedrohung’, dann über ‚Prosperität im Kapitalismus’, über ‚Arbeitsmigranten und Bauern’ über ‚Mobilität, Siedlungsstrukturen und Raumplanung’ und auch über ‚Medien und Öffentlichkeit’ erfahren.
Zur Kriegsverschonung der Schweiz schreibt Tanner, dass es zur Neutralität bei Kriegsbeginn keine Alternative gegeben habe. ‚Die Kriegsverschonung der Schweiz aus der Neutralität abzuleiten kommt einem argumentativen Kurzschluss gleich. Es ist umgekehrt so, dass die Schweiz ihre Neutralität – mehr schlecht als recht – aufrechterhalten konnte, weil sie nicht angegriffen wurde.’ Neutrale Länder, so auch die Schweiz, verhielten sich opportunistisch.’ (..) ‚Die Meinung, der neutrale Kleinstaat habe angesichts der Bedrohungslage keine Gesinnungspolitik betreiben können, sondern die Staatsräson walten lassen müssen, baut allerdings ein unproduktive Dichotomie auf. Gerade bei der Flüchtlings-politik wäre es möglich gewesen, die staatlichen Interessen humanitär zu definieren.’ Tanner stellt immer wieder spannende Zusammenhänge her und bewertet oft souverän.
Etwas Nachdenken löst es beim Leser zunächst aus, wenn er den Titel ‚Widerwillige Bewegung’ des dritten Teiles liest. Der Geschichts-professor ist jetzt nicht mehr Beobachter zweiter, sondern erster Ordnung, also Zeitgenosse mit eigenen Erfahrungen und auch Medienkonsument. (Könnte es sein, dass viele Medien die Verwerfungen der Ambivalenzen intensiver beobachtet und auch den Historiker beeinflusst haben?) Zu seinem Ambivalenzkonzept gehört jedenfalls, dass dabei mit einem Kapitel mit 4o Seiten über (medienwirksame) ‚Revolte und Krisen’ (l966 bis l975) beginnt. Der nächste Titel heisst mit 45 Seiten ‚Umbau und Flexibilisierung’ (1976 bis 1999), dann geht es auf 50 Seiten um ‚Schweizer Wenden um 1990’ und schliesslich um ‚Souveränitätsmythos und europäische Integration’ (1992 bis 2010), was rund 59 Seiten füllt.
Und einmal mehr beginnt er mit einer gewagten Zusammenhangs-behauptung, wenn er in der 68er Bewegung eine Konkretisierung des als liberaler Feder stammenden ‚Helvetischen Malaise’ beginnt. Überaus ausführlich wird dann über die ‚facettenreiche 68er Bewegungen’, über die anschliessenden sozialen Bewegungen (die rechtsgerichtete ‚Über-fremdung’, die Fr dann über die sogenannten 'über die anschliessenden sozialen Bewegungen (die Frauenbegung) und dann über die sogenannten ' Frauenbewegung) und dann über die sogenannten ‚neuen sozialen Bewegungen’ (Umweltbewegungen, Anti-AKW-Protest usw.) berichtet. ‚Für weniger zentrale Städte sei die 68er Bewegung ein politisches Kick-off-Ereignis gewesen.’ Dann kann man sogar lesen, dass sich in der Stadt St. Gallen Kantonsschüler und Lehrlinge zur Aktion ,Rotes Herz’ formiert hätten. Das musste also auch noch hinein.
Mit dem ersten Sozialdemokraten als Aussenminister, dem Zürcher Wily Spühler, kam gegen Ende der 60er Jahre Bewegung in die Schweizer Aussenpolitik. Ein machtloser Kleinstaat hätte flexibel auf die internationale Umwelt reagieren müssen, zumal die Bundespolitik zugleich mit einigen schwierig zu lösenden Problemen in den Bereichen Planung, Konkordanz und Steuerstaat konfrontiert war. Gesamtplanungen für Raum, Verkehr usw. seien zusammengebrochen und am fortgesetzten Scheitern der Konjunkturpolitik hätten sich die Grenzen der Konkordanz- und Verbandsdemokratie gezeigt.
Mit dem dreisäuligen Versicherungsprinzip der AHV (1972) setzte sich das bürgerliche Konzept im Sozialstaatsausbau durch, die Gesetzgebung über die berufliche Vorsorge sei dann steckengeblieben und sie konnte erst 1985 in Kraft treten. Dann wuchsen in den 70er Jahren wirtschaft-liche Probleme, weil die Nationalbank auf Grund des Festhaltens an festen Wechselkursen die Geldversorgung der Wirtschaft nicht im Griff hatte. Als sie nach dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods 1973 ihre geldpolitische Autonomie gewonnen habe, zog sie die ‚Notbremse’, was mit der Sparpolitik des Bundes hierzulande zum schwersten wirtschaftlichen Einbruch von ganz Europa führte.
Unter dem Titel ‚Umbau und Flexibilisierung’ behandelt Tanner die Veränderungen in der Parteienlandschaft, die Landesverteidigung, die Aussenpolitik, den ‚Umbau der Industriegesellschaft’ und weitere Politik-felder. Der Abschnitt ‚Schweizer Wenden um 1990’ beginnt wieder, lang und breit, mit ‚Schattenseiten’, dem ‚Kopp-Skandal’ und der ‚Fichen-Affäre’, Die Volkszählung ergab 6 874 000 Einwohner und trotz Zuwanderung eine zunehmende Alterung (und Urbanisierung) der Bevölkerung. Französisch als zweite Landessprache hatte an Bedeutung gewonnen. Mit der ‚Bahn 2000’ sei es auch zu einer verkehrspolitischen Wende gekommen. Es folgten die unterschiedlich ausgehenden Volks-abstimmungen über einen Beitritt zu UNO, zum IWF und der Weltbank und zum EWR und zu Armeefragen; die nationalkonservative SVP erstarkte. Wirtschaftspolitisch hatten die 1990er Jahre schlecht begonnen, doch mit der ‚Milleninumsstimmung um 2000 sei die Zukunftshoffnung in der Schweiz zurückgekehrt.
Je ‚jünger’ die Schweizer Geschichte wurde, desto komplexer formierten sich Gesellschaft, Wirtschaft und Politik und entsprechend mühsamer gestaltet sich ihre Beschreibung. Das drückte den Historischer und das weiss auch die interessierte Leserschaft. Und Jakob Tanner wäre nicht Hochschullehrer, hätte er abschliessend nicht noch einmal zu einem anspruchsvollen und ausgreifenden Fazit ausgeholt. So erhält die Schweiz, vor allen ihre Führungskräfte und junge Leute, einen von einem kompetenten, aber kritisch strengen Richter einen Spiegel vorgehalten, mit dem sie in die jüngere Vergangenheit zurückblicken kann.
Leonhard Neidhart
Jakob Tanner, Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert.
Verlag C.H. Beck, München 2015, 676 S.