Der Bundesrat als Element und Ausdruck der schweizerischen Mischverfassung

Die Eidgenossenschaft verfügt nicht nur mit den Einrichtungen der direkten Demokratie sondern auch mit der Organisation ihrer Regierung über eine einzigartige politische Institution. Über deren Vorzüge kann und sollte nachgedacht werden, bevor die „populis- tischen Rüttler“ sie zum Thema ihrer Machtspiele machen und/oder die New Public Management Anhänger daran ihre Weisheiten offenbaren.

Was aber sind die erwiesenen Errungenschaften dieser schweizerischen Regierungsorgani- sation, des Bundesrates? Zunächst ist sie traditional hoch legitimiert. Denn sie besteht unver- ändert seit 15o Jahren und sie ist deshalb in der politischen Kultur des Landes und im Bewusstsein des Volkes tief verankert und von einem besonderen Institutionenvertrauen getragen. Das macht sie zu einer Staatsklammer und zu einer Ordnungskraft. Sodann ist sie repräsentativ, damit demokratisch und pluralistisch zusammengesetzt und das dient dem kleinstaatlichen Bedürfnis nach Konfliktbegrenzung. Immerhin sind im Bundesrat die wich- tigen Parteien, die Sprach- und Landesregionen und jetzt auch die Frauen vertreten. Das Auswahlverfahren läuft sorgfältig ab, denn die Bundesversammlung wählt jedes Bundes- ratsmitglied ad personam mit separatem Verfahren selbst; dann aber gibt sie dem Bundesrat einen Regierungsauftrag auf die Zeit einer ganzen Legislaturperiode. Damit erhält das Gremium Kontinuität und Gestaltungsmöglichkeiten. Die Ressorts und damit die Macht im Bundesrat sind auf einen kleinen Personenkreis aufgeteilt und werden so sowohl intern als auch extern wirksam kontrollierbar. Im Kleinstaat wirken Kontrollen überwiegend informell und auch deshalb kennt man in Bern weder die Instrumente des Misstrauensvotums noch jenes der Parlamentsauflösung. Das Vertrauen in die Personen wirkt als (bewährtes) funk- tionales Äquivalent für institutionalisierte Kontrollmechanismen. Die mehr oder weniger lose Koppelung des Departementalprinzipes mit jenem der kollektiven Verantwortlichkeit schafft intraorganisationelle Entscheidungs- und Oppositionsspielräume aber auch Zwänge zur Einigung und zur Gemeinsamkeit. Abgesehen von der Zuteilung der Ressorts und der faktisch freien Wahl seiner Demission hat formell kein Minister Vorrechte. Gewiss fordert jene Kombination ihren Preis, aber eine personenzentrierte Führungspitze will man nicht, weil sie diese organisatorische Mischung zerstören würde. Vielmehr wird die Präsidialrolle reihum- gehend und damit politisch diskret ausgeübt. Und obwohl der Bundesrat aus Parteivertretern zusammengesetzt ist, agiert er überparteilich; schweizerische Regierungsmitglieder üben keine Parteifunktionen aus. Schliesslich arbeitet er sehr eng mit den Räten der Bundesver- sammlung und auch mit den ausserparlamentarischen Kräften, mit den Verbänden und den Kantonen zusammen und gleichwohl verfügt er über ein Mass an handlungsspielraum- sichernder Parlamentsunabhängigkeit und damit durchaus über Führungsfähigkeit.

Wer wollte bestreiten, dass das Land dieser hochkomplexen und sorgfältig austarierten institutionellen Lösung sehr vieles verdankt? Sie ist Abbild und Teil der schweizerischen Mischverfassung. Man muss gar nicht konservativ denken, wenn man an ihre Vorzüge glaubt und an ihr festhalten will. Dreierlei ist aber klar. Erstens: Die Funktionen, die Macht und auch die Verantwortung des Bundesrates sind im Verlaufe der vergangenen Jahrzehnte erheblich grösser geworden. Um diese Entwicklung zu erkennen, fasse man nur die Problembrocken ins Auge, die auf der Agenda der eidgenössischen Politik lasten.

Zweitens: Die zunehmende faktische Verflechtung der Schweiz mit der internationalen Politik, EU-Mitgliedschaft hin oder her, schiebt, wie in allen formellen Mitgliedstaaten der EU, auch der schweizerischen Exekutive immer mehr Einfluss zu. Und drittens: Eine allfällige Volkswahl des Bundesrates würde die gewachsene und bewährte Logik und Struktur dieser institutionellen Errungenschaft Bundesrat buchstäblich revolutionieren. Denn sie würde dessen Repräsentativität und Kollegialität bedrohen Sie würde die Macht des Bundesrates weiter stärken und schwerer kontrollierbar machen und damit die Vertrauensgrundlage schwächen und im Ganzen das sensible institutionelle Gleichgewicht der schweizerischen Mischverfassung stören. Zugleich würde sie das Wahlverfahren hochkonfliktiv machen, das Gremium parteipolitisieren; sie würde ausserdem die Rolle des Parlamentes und damit der Parlamentswahlen schwächen und die Volkswahl würde die Auswahlverfahren personalisieren, telekratisieren und auch plutokratisieren. Und weil die besondere institutionelle Ausgestaltung der Regierung des Bundes einer Reihe elementarer funktionaler Erfordernisse oder Notwendigkeiten der Willensnation Schweiz entspricht, wären die Folgen einer solchen Änderung des Wahlverfahrens unvorhersehbar.



Diese Argumentation soll mit einer Anmerkung zur Sichtweise bzw. zur Theorie der politischen Institutionen gestützt werden. Institutionen sind, besonders in der Schweiz, das Ergebnis der Einregulierung und Verrechtlichung von Problemlösungsverfahren. Ihre Struktur erklärt sich unter solchen Entstehungsbedingungen wesentlich aus den Funktionen oder Leistungen, wel- che sie für die Politik als Umgang mit der Macht und als Notwendigkeit zur Herstellung und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen zu erfüllen haben. Die Art dieser Funk- tionen resultiert ihrerseits aus den funktionalen Erfordernissen bzw. aus den Notwendigkeit- en und den Herausforderungen, mit denen eine politische Gemeinschaft fertig zu werden hat.

Primordinale Herausforderung der Schweiz ist erstens, dass sie von keiner gemeinsamen Sprache zusammengehalten wird. Deshalb sind die politischen Institutionen als Integrations- faktoren funktional besonders wichtig. Dabei, so die These, spielt auch der Bundesrat eine zentrale Rolle. Zweitens hat sich das politische System der Schweiz von unten nach oben als Versammlungssystem entwickelt und so sind die „Räte“, nämlich der Nationalrat, der Ständerat und eben auch der Bundesrat als logische Einrichtungen entstanden. Da die legis- lativen Räte nur nebenamtlich und temporär arbeiten, bedarf es eines dauerhaften und zuver- lässigen Rates als „Arbeitsausschuss“ der Volksräte und das ist wiederum der Bundesrat.

Zu den existentiellen Rahmenbedingungen der Schweiz gehört drittens auch ihre Kleinstaatlichkeit. Sie wirkt auf die politische Organisation insofern ambivalent, als die kleinen Bundesmitglieder einerseits alle eine besondere Angst vor Machtkonzentration und vor Abhängigkeiten haben und die Macht deshalb möglichst penibel geteilt und verteilt sehen wollen und dass sie andererseits gleichwohl zu einer effektiven Fusion ihrer knappen Kräfte gezwungen sind. Im Bundesrat sind diese doppelten Funktionen der Machtverteilung und der Machtkonzentration (kleiner und auch kostengünstiger Rat, dauerhafte Amtszeit) in höchst origineller Weise institutionalisiert. Viertens ist die Eidgenossenschaft nicht nur sprachlich, sondern auch regionalistisch und „kantonalistisch“ ein höchst pluralistisches und heterogenes Gebilde, dessen zentrifugalen Kräfte ebenfalls eine zentripetale bzw. einheitsstiftende und homogenisierende Institution notwendig machen. Und auch das ist ganz wesentlich der Bundesrat. Schliesslich fünftens schaffen die Aussenbeziehungen und die Neutralität des schweizerischen Kleinstaates besondere exogene Herausforderungen, welche durch eine stabile Institution bzw. durch einen „kollektiven Präsidenten“ risikoloser und erfolgreicher bearbeitet werden können als durch eine möglicherweise charismatische Einzelperson.


Neben diesen primordinalen oder kontextbedingten politischen Notwendigkeiten der Schweiz erzeugen auch die Einrichtungen ihres Regierungssystems besondere funktionale Erfordernisse, welche durch spezialisierte institutionelle Vorkehrungen bearbeitet werden müssen, wenn das Ganze funktionsfähig und stabil bleiben soll. Dazu gehört bekanntlich zunächst der Föderalismus, der einer integrativen Institution bedarf, damit er funktioniert. Neben dem Zweikammersystem und dem Proporz erfüllt ganz wesentlich auch der Bundesrat solche Funktionen der Repräsentation, der Partizipation, der Koordination und der Konkor- danz der Bundesmitglieder. Und was immer man auch gegen die sog. „Zauberformel“ nachteiliges vorbringen will und kann, sie hat ohne Zweifel, wie alle institutionellen Lösungen, auch ihre Nachteile. Doch wird oft übersehen, dass es eben jenes komplexe Mischverfassungselement der Bundesratsorganisation ohne personelle Spitze ist, welches die „Zauberformel“ überhaupt erst möglich macht, eine Regierungsformel nämlich, die zugleich verschiedene funktionale Erfordernisse erfüllt und die sich deshalb auch so lange legitim hält.

Sodann kann in diesem Zusammenhang die direkte Demokratie nicht unerwähnt bleiben. Sie ist in Wirklichkeit ein majoritäres, häufiges und deshalb genuin konfliktträchtiges Ja oder Nein Verfahren, das mit dem Referendum und der Initiative jede Menge von Widersprüchen, von Opposition, von Forderungen, aber auch von Unterstützung und Legitimation möglich macht, ein Verfahren überdies, das in einem starken Spannungsverhältnis zum schweize- rischen Pluralismus der Sprachen und der Regionen steht. Eben diese direkte Demokratie schafft besondere funktionale Erfordernisse der Vorverhandlung, des referendumspräventiven Interessenausgleichs und der Konkordanz, damit Volksabstimmungen überhaupt mehrheits- und funktionsfähig so wie akzeptabel und legitim werden und bleiben. Und auch dafür ist die Vorverhandlungskapazität des Bundesrates eine conditio sine qua non.

Schliesslich wäre auf das schweizerische Milizparlament hinzuweisen, das einer besonderen Unterstützung durch, und Kooperation mit der Regierung bedarf, einer Regierung, die mehr als eine Parteienregierung sein muss. Und endlich fungieren in der Schweiz zahlreiche Par- teien, die aus dem Föderalismus herausgewachsen sind und die es zur Moderation der Volks- abstimmungen dringend auch braucht. Aber mehr an Parteienstaatlichkeit könnte das Land wohl kaum ertragen. So zählt es gewiss zu den Vorteilen der breit zusammengesetzten Regi- erung, zur sog. Zauberformel, dass sie exakt einer starken Parteipolitisierung entgegenwirkt.

 

Institutionen lösen Probleme und speichern historische Erfahrungen. In der Organisation des Schweizerischen Bundesrates ist dies offensichtlich in reichem Masse der Fall. Seine Form gehört zu den wesentlichen Elementen der schweizerischen politischen Kultur, die einen Rat, aber keinen Premierminister, keinen Kanzler und möglichst wenig an Obrigkeit, Hierarchie und politischem Personenkult will. Dennoch plagen das Volk eines Kleinstaates durchaus besondere Sicherheits- und Führungsbedürfnisse und es benötigt deshalb eine Institution, der es vertrauen und mit der es sich identifizieren kann. Das ist glücklicherweise der Bundesrat. Zudem dürften die Prozesse der Internationalisierung und der Globalisierung und auch der durch die veränderte Aussenumwelt bzw. durch die friedliche EU schwächer gewordene integrative Aussendruck auf die Schweiz eben jene Bedürfnisse und auch den Aufwand nach Sicherung der inneren Identität des Landes zusehends verstärken. Damit sind alternative Integrationskräfte gefragt. Wo sollen sie herkommen? Der Populismus will diese gestiegene Umweltkomplexität mit Vereinfachungsformeln kompensieren und wegeskamotieren. Dazu gehören auch die Forderungen nach einer Volkswahl des Bundesrates so wie die Subito-abstimmung über Volksinitativen, genauer von Initiativen aus dem Volk.

Die Volkswahl des Bundesrates würde diese geschichtlich gereifte und breit akzeptierte Institution funktional ebenso in Frage stellen wie eine allfällige und systemfremde Hierachisierung dieses originären schweizerischen Rates durch einen sog. starken Präsidenten, der in der Referendumsdemokratie so stark gar nicht sein könnte. Kein vernünftiges Volk wird eine derart bewährte Institution, wie es der Bundesrat ist, macht- bewussten Populisten ausliefern. Im übrigen hat gerade die Willensnation Schweiz gute Gründe, besonders sorgfältig mit ihren bewährten politischen Institutionen umzugehen.

Leonhard Neidhart

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