Wählen und Wahlen in der halbdirekten Demokratie

Die  Erneuerungswahl des Bundesparlamentes ist auch ein Anlass  etwas genauer darüber  nachzudenken,  wie sich das Wählen und die Wahl in unsere halbdirekte Demokratie einfügen.  Denn schon die Kombination dieser beiden  politischen Beteiligungsmöglichkeiten erklärt manches.

 

Geht es um  die Wahlen, dann gilt es zunächst zwischen dem  Wählen und der Wahl zu unterscheiden. Denn das Wählen oder das Nichtwählen sind   individuelle Akte, die  Wahl   aber ist  ein  systemischer Vorgang. Beide folgen   einer eigenen Logik, beeinflussen sich aber gegenseitig. Und  je weitgehender die Machtzuteilung durch die Wahl erfolgt, desto intensiver werden der Wahlkampf und die Mobilisierung  zur Wahlbeteiligung. Gewiss folgt das individuelle Wahlhandeln auch  bei uns weitgehend  den  psychosozialen Gesetzmässigkeiten   demo-kratischer Länder, wir sind    keine anderen Menschen, zum Teil wird es   systembedingt  aber  anders  beeinflusst. Unsere Wahlen übertragen systembedingt weniger Macht.

 

Auf den ersten Blick erscheinen das Wählen und die Wahlen dennoch als einfaches Geschehen. Tatsächlich aber wirken dabei  Abhängigkeiten und Zusammenhänge und damit psychologische, soziologische und politologische Faktoren  zusammen, was auch diese Skizze nicht einfach macht. So können  Psychologen  untersuchen, wie das  Wählen  und Nichtwählen von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen und Einstellungen  abhängig ist. Soziologisch ist das Wählen eine Art des sozialen Handelns und Politologen sollen  zeigen, wie dieses Handeln durch das politische System, durch die  Funktion des Wahlprozesses  und durch inhaltliche Politiken beeinflusst wird.  Dieser Aspekt soll jetzt im Zentrum stehen. Quantifizieren lassen sich diese Zusammenhängen nur in Grenzen, also muss man interpretieren.

                                                    *

 

Aus welcher Perspektive man auch an das Wählen und an die Wahlen herangeht,  immer sollte man sich zuvor bewusst machen, wie  komplex und immer komplexer  die Merkmale des Politischen geworden sind und wie diese Komplexität angemessen oder propagandistisch reduziert werden kann und wird. Geht es dabei einerseits doch  um erwünschte, hilfreiche und schützende, andererseits aber  auch um notwendige, imperative und kostspielige kollektiv verbindliche Entscheidungen und um die Frage, wer die Macht haben soll, diese zu fällen.   Dass damit  zunehmend mehr Motive,  positive oder negative Emotionen,  Interessen oder Bedürfnisse nach Distanz und Privatheit geweckt werden, wenn man wählen soll und kann, bedarf keiner Erläuterung. Wählen wird immer komplizierter, wohl auch ein Grund für die mässigen  Wahlbeteiligungen.

                                                  *

 

Psychologisch kann das Wählen als Reaktion von Individuen auf Wahrnehmungen beschrieben werden. Soziologisch gesehen ist es  ein soziales Handeln, also ein solches, das sich an anderen Handelnden orientiert und dabei mit anderen übereinstimmt.  Wenn wir wählen,  orientieren wir uns  an Parteien oder an Personen und stimmen mit  ihnen überein, denn wir geben unseren Wahlzettel    für eine Partei ab oder panaschieren.  Das  setzt  voraus, dass wir eine Beziehung zu einer Partei oder zu Personen bzw. zur  Politik  pflegen. Das haben nun einmal nicht alle Leute, aus welchen Gründen auch immer. 

 

Fasst man diese politische Beziehung mit dem Begriff der sozialen Rolle, dann ergeben sich weitere Einsichten in das Wählen. Rollen sind Verhaltenserwartungen, welche die Gesellschaft, der Staat, der  Arbeitgeber oder der Ehepartner usw. an uns richten.  Soziologisch kann man das individuelle Wählen  als politische Rolle, also  als  eine Erwartung des Staates an den Einzelnen definieren und analysieren, ein Recht und eine Pflicht zu haben,   Repräsentanten zu wählen, um damit  an der  Herstellung der politischen bzw. kollektiv verbindlichen Entscheidungen teilzunehmen.  Die Erfüllung dieser Rolle hängt  überall auch mit   Alterserfahrungen, mit Bildung, Beruf, Interessen des Wählenden usw. und mit dem Gesamtzustand der Gesellschaft und der Wirtschaft  zusammen.

 

Wir erfüllen  nicht alle unsere Rollen  perfekt. Immer hängt das  zum einen von ihrer Internalisierung und zum anderen von den Sanktionen ab. Zu den Eigenarten der  Rolle des Wählens gehört es erstens, dass die Erwartungen als politische  komplex, zahlreich, diffus und damit enttäuschungs- und konfliktanfällig und zweites gleichwohl nur schwach positiv oder negativ sanktioniert sind.  Denn wir werden durch das Wählen weder   unmittelbar und sofort belohnt noch bestraft und viele der politischen Abstinenten, der ‚politisch Beziehungslosen’ und Andere  fühlen sich offenbar  weder belohnt noch bestraft, wenn sie diesen Erwartungen nicht entsprechen.   Wir müssen uns  selber belohnen,  sei es, dass wir  mit dem Wahlzettel eine Pflicht oder eine Funktion erfüllen, einer Partei die Treue halten, einen Repräsentanten respektieren oder einen Gegner durch Ablehnung  ‚bestrafen’. Oder ein  ‚schlechtes politisches Gewissen’ haben, wenn wir diese Rolle nicht erfüllt haben.  

 

Und drittens       ist individuelles Wählen eben nur eine Erwartung, deren Erfüllung  ungewiss   und deren Folgen in weiter Ferne liegen können. Dann muss man Vertrauen haben, um diese Kontingenz zu reduzieren.    Schliesslich viertens  handeln wir beim Wählen zwar autonom, sind dabei aber nur ein  kleiner Teil eines grossen  Kollektivs, des Wahlvolkes.  Das verkleinert zwangsläufig die Wirksamkeit und Folgen des individuellen Wahlhandelns und schwächt seine Motivation.

                                                        *

 Aus politologischer Sicht sind Wahlen ein  systemischer Vorgang.  Dazu vorweg erstens: In der Summe ermöglicht unser politisches System allen Wahlberechtigten   ein Maximum an Mitentscheidungsmöglichkeiten, sei es  mit Wahlen im Bund, in den Kantonen und in den Gemeinden oder sei es mit den dortigen  Volksabstimmungen. Allein diese grosse Anzahl der Urnengänge verkleinert ihre fallweise sachliche Bedeutung, damit ihre Attraktivität und die Mobilisierungskraft der Ereignisse und deshalb ist  die Wahl- und  die Stimmbeteiligung in normalen Fällen  begrenzt. Wir können  nicht mehrere  Male im Jahr hohe Wahl- oder Stimmbeteiligungen haben und die gesellschaftlichen Gruppen in den Dörfern und Kantonen damit  gegeneinander aufbringen. Statt über die mässigen Wahlbeteiligungen zu klagen, könnte man auch nach jenen Faktoren fragen, welche  die  Wahlbeteiligung in die Höhe treiben. Staatsbürgerliches Verantwortungsgefühl steht dabei sicher nicht immer an erster Stelle.

 

Und zweitens: Kennzeichnend für unser politisches System ist sodann die ausserordentlich weitgehende  vertikale und  horizontale Teilung der Gewalten. Weil Wahlen die  demokratischen Verfahren der Zuteilung von Macht sind, kann  man     ohne Berücksichtigung dieser intensiven Gewaltenteilung nicht zutreffend über Wahlen, Wahlkämpfe und die Wahlbeteiligung reden. Übrigens muss dank dieser exemplarischen Gewaltenteilung  bei unseren Wahlen niemand einen durchgreifenden Machtwechsel befürchten und kaum jemand kann einen solchen erwarten und deshalb an die Urne gehen.

                                                  *

 

Von Systemen ist  sinnvollerweise  dann die Rede, wenn ganze  Einheiten aus vielen verschiedenen Teilen zusammengesetzt sind, die   sich   in ihren Funktionen gegenseitig ermöglichen und begrenzen.  Das ist mit unserem Regierungssystem, in dem Elemente des Föderalismus mit repräsentativen, direktdemokratischen Einrichtungen und mit einer kollektiven und kooperativen Regierungsform (Konkordanz, ‚Zauberformel’)  verknüpft sind, in starkem Masse der Fall. Hinzu kommen die beiden Wahlrechte des Proporzes für den Nationalrat und des Majorzes für den Ständerat. Und all das prägt unsere Wahlen, die Wahlkämpfe, das individuelle Wahlverhalten und die Wahlbeteiligung auch.

                                                 *

 

Zu den Sockeln unseres Föderalismus bzw. unserer Bundesstaatlichkeit mit seiner vertikalen  Gewaltenteilung gehört erstens, dass wir zwei ‚Souveräne’ mit eigenen Wahlrechten haben,  nämlich die Kantone und  das Volk,  und zweitens, dass die Kantone vergleichsweise zahlreich und nach Grösse, nach Einwohnerzahl, nach Sprache, Kultur und Wirtschaftskraft sehr verschieden sind.  Trotz und wegen  dieser Unterschiede sind alle Kantone durch die Ständeräte  an den   Bundeswahlen  gleichberechtigt beteiligt,  ‚korrigieren’ damit aber die Ergebnisse der Nationalratswahlen bzw. des Volkes.  So wählt z. B. der kleine Kanton Schaffhausen mit seinen 80 000 Einwohnern bekanntlich zwei Mitglieder in den Ständerat, die Stadt Winterthur mit ihren 100 000 Einwohnern hat keinen und der Kanton Zürich mit seinen 1,45 Mio. Einwohnern nur zwei. Das kann motivieren und enttäuschen. Die Mehrheitswahl der Ständeräte macht die Kantone in der Zweiten Kammer des Bundes zwar gleich, überwältigt aber  Minderheiten des Volkes.

 

Die  grossen Unterschiede der Kantone werden bei den Bundeswahlen teils zwar ausgeglichen, teils bleiben   kleine Parteien und ihre Wähler also Teile des Volkes  in den kleinen Kantonen mit ihren kleinen Wahlkreisen dabei aber chancenlos. Denn die  Kantone  beanspruchen auch die Wahlkreise für den Nationalrat, die Wahlkreise des Volkes zu sein. Daraus folgt auch, dass nicht alle Wahlberechtigte  ein starkes Motiv und    ein Interesse haben, sich an den National- und den Ständeratswahlen zu beteiligten. Warum soll man an die Urne gehen, wenn die eigene Partei keine Chance auf ein Mandat hat?

 

Schliesslich  bindet der Föderalismus unsere Parteien und damit die Wahlkämpfe an die Kantone zurück und das stabilisiert sie. Und  dort  agieren meist zahlreiche Parteien, die, wenn überhaupt, nur über eine kleine Zahl von Mandaten verfügen. Auch das personalisiert die Wahlkämpfe und macht sie oft nicht besonders überzeugend. Und man muss auch für die Gemeinde und den Kanton Wahlkämpfe führen und dazu verfügen die meisten Parteien weder über genügend Personal noch Geld.

                                        *

 

Sodann bestehen intensive Wechselwirkungen auch zwischen der direkten Demokratie und den repräsentierenden Wahlen. Zwar begrenzt die direkte Demokratie die Funktionen und die Macht der repräsentativen Organe, damit der Parteien, der Wahlen, des Parlamentes und des Bundesrates. Aber ohne die Mitwirkung dieser Akteure kann die manchmal kontingente  direkte Demokratie nicht funktionieren und legitim bleiben, je länger desto weniger.

 

Praktisch entscheiden wir  grosse Streitfragen oft durch Volksabstimmungen, entlasten und stabilisieren damit die Parteien und die Regierung und entdramatisieren  auch die Wahlkämpfe und Wahlen. Aber ohne  Beratung und Überzeugung durch die Parteien und durch den Bundesrat kann das Volk nicht vernünftig entscheiden und sich  gegen finanzstarke  Interessenvertreter und machtbegierige Populisten wehren.  Und während die Parteien in den Wahlkämpfen nur mit Versprechungen aufwarten und nur Erwartungen erzeugen können, müssen sie mit ihren Parolen zu den Volksabstimmungen die Karten auf den Tisch legen und das schärft ihr Profil. Also braucht auch  die direkte Demokratie  Parteien. Aber sie haben eben deswegen und in unseren überschaubaren Verhältnissen nur wenig Anhang. Wenn wir die Parteien, die die Wahlen bestreiten sollen, nicht besonders schätzen, dann verläuft der Politik- und Wahlprozess eben über andere interessen- und personenbezogene Kanäle, die  nicht transparenter sind. Das  kann   aufgeschlossene Wahlberechtige dazu motivieren, trotz allem für eine berechenbare Partei an die Wahlurne zu gehen.

 

Parteien und direkte Demokratie wiedersprechen sich also nicht unbedingt, so lange  einer dieser Machterwerbungskanäle nicht übermässig geöffnet und missbraucht wird. Aber ‚im Dorf’ braucht und schätzt man politische Parteien und überrissene Wahlkämpfe kaum, weil ihre Funktion dort nicht nötig ist. Auch wenn auf jedem zweiten Acker das Foto eines  Kandidaten oder einer Kandidatin grüsst und sich ‚bereit für Bern’ erklärt. Das heisst, die repräsentative Funktion der Parteien ist nur im grossen Verband des Bundes unabdingbar, weniger in kleinen. Wie anders sonst könnte man  erklären, dass am schönen Sonntag nach Ostern, an einem politisch ungünstigen Termin, im Kanton Zürich kaum noch ein Drittel der Wahlberechtigen an die Urnen gegangen sind. Uninformiert und gleichgültig waren die anderen Zweidrittel gewiss nicht.

 

Aber die ‚historischen Parteien’ verlieren zunehmend ihre sozialen Milieus,  ausserdem sind die rund  25% Ausländer  nicht wahlberechtigt. Die Folgen dieser Schwächung der ohnehin organisationschwachen Parteien sind auch unkontrollierbare und ungleich finanzierte Wahlkämpfe und eine zunehmende Personalisierung der Kandidatenauslese. Gewiss kommt dabei Kompetenz ins Licht, zugleich wird aber   der Einstieg von ambitiösen Quereinsteigern und Medienstars  leichter, wo doch die Auslese der Volksvertreter  eine wichtige  Aufgabe der Parteien ist.  Ob diese zunehmende Personalisierung und Medialisierung unserer Wahlkampagnen die Wahlbeteiligung fördert, ist zweifelhaft.

                                           *

Die ausserordentlich weitgehende  Gewaltenteilung und Gewalten-zersplitterung in unserem Land muss auf der Ebene des Bundes reintegriert werden. In der   Sprache der Systemtheorie formuliert könnte man sagen, dass die Komplexität  und die Kontingenzen unseres Föderalismus und der direkten Demokratie in eine praktikable Eigenkomplexität reduziert werden müssen.  Das geschieht  ganz wesentlich weniger durch unser lose gekoppeltes und halbes Miliz- parlament als durch unsere Regierungsform, bzw. durch den auf Dauer gewählten, kollektiv zusammengesetzten, vergleichsweise parlaments- und parteiunabhängigen Bundesrat, durch die ‚Zauberformel’ und die  Konkordanz.

 

Und auch das beeinflusst unsere Wahlen stark. Zunächst stehen  die Regierungsmitglieder bzw. Bundesräte als Personen bei uns nicht gleichermassen stark im Zentrum der Wahlkämpfe wie anderswo. Sie sollen etwas Distanz zu ihren Parteien und den Wahlkämpfen halten, damit das Kollegialitätsprinzip funktioniert. In alle Kantone könnten sie ohnehin nicht zu Wahlkämpfen reisen. Und weil alle grossen Parteien und Parlamentsfraktionen in der Regierung vertreten sind und diese Regierungsbeteiligung nicht grundsätzlich in Frage steht, können und sollten sie in den Wahlkämpfen nicht auch noch laut Opposition betreiben.

 

In unserer ‚individualistischen’  Bundesversammlung, im Übermass der persönlichen Vorstösse  kommt das auch zum Ausdruck, müssen sich die  zahlreichen  Fraktionen in Verhandlungen und Kompromissen  ad hoc zusammenfinden, damit ihre Arbeit hinterher vom Volk  nicht  verworfen wird. Während bei unseren Nachbarn die Parteien Wahlversprechen in verbindliche Koalitionsverträge fassen und damit ihre Parlament dominieren, sind bei uns die Beziehungen zwischen den Parteien und den Parlamentsfraktionen locker und für die Wählerschaft weniger klar und die Einflüsse von Interessenvertretern stark und ‚intransparent’.

 

Ohne politische Kompromisse geht in unserem Land nicht viel, sachlich gleichwohl  oft besser. Eine Triebkraft zur Wahlbeteiligung sind Kompromisse eben kaum. Und unsere Wahlen sind nun einmal nur eines der politischen Rechte, die das  Volk hat. Deshalb ratifiziert die begrenzte Intensität der Wahlkämpfe und die mässige Wahlbeteiligung auch unsere Regierungsweise. Denn wer schweigt, stimmt, wie es scheint, auch zu.

 

Leonhard Neidhart

 

Okt 2015

Zurück