Ein Volk hat viele Stimmen

Echte ‚plebiszitäre’ Einrichtungen sind mit der parteiendemokratisch-repräsentativen Demokratie Deutschlands nicht kompatibel.

In Deutschland machen Begehren nach direkten Mitentscheidungs-rechten der Wahlberechtigten an Sachfragen die Runde; entsprechende politische Illusionen auch. Was man verstehen kann. Dabei ist ab und zu vom ‚Schweizer Modell’ die Rede. Weil der Schreibende als Schweizer und umgekehrter Grenzgänger an der Universität Konstanz Politikwissenschaft lehrte, griff er über dieses Thema zur Feder, ohne sich damit beim ‚grossen Nachbarn’ politisch einmischen zu wollen.

Aber der Herr Kollege Werner Patzelt von der Universität Dresden hatte das Thema in diesem Blatt unter dem Titel ‚Die Stimme des Volkes’ aufgenommen und gemeint, ‚die parlamentarische Demokratie liesse sich durch weitere Formen der Bürgerbeteiligung vervollkommnen’ und dann nach einen längeren Wenn-und-Aber eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Wirklich durchdacht hat er deren weitreichende Konsequenzen aber nicht, weshalb sie nicht unwidersprochen bleiben können. Die wichtigsten von ihnen sind mit der parteiendemokratisch-repräsentativen Demokratie Deutschlands nämlich nicht kompatibel.

Um vorweg etwas Klarheit zu schaffen: Erstens: Es geht im Folgenden nicht um die ‚Volkswahl’ oder Direktwahl von Regierungsmitgliedern, denn sie ist selbstverständlich in deutschen Gemeinden und Städten möglich. In der Schweiz werden alle Exekutivmitglieder in den Gemeinden und den Kantonen (sie entsprechen den deutschen Bundesländern) direkt vom ‚Volk’ gewählt. Allerdings mit dem grossen Unterschied, dass hier überall zahlenmässig kleine kollektive Räte aus Gleichgestellten (also ohne einflussreiche Spitze), regieren, sodass ein freiwilliger Proporz möglich und geübt wird, was die Konfliktvität der dabei nötigen Majozwahlen entschärft. In Deutschland würde die Volkswahl der Ministerpräsidenten in den Ländern die Landesparlamente aushebeln und damit die Funktionen der Parteien und der Wahlen schwächen.

Zweitens: Über Volksabstimmungen zwecks Änderungen des Grund-gesetzes, also über ein nachträgliches (nur fakultatives) Verfassungs-referendum, liesse sich auch in Deutschland reden. Die Schweiz praktiziert zur Sicherheit dazu immer doppelte Mehrheiten, jene des Volkes und jene der Kantone; das könnte man zu Schutz der kleineren Bundesländer auch in Deutschland machen. Für die ganz grossen Streitfragen muss gleichwohl ein Konsens gefunden werden.

Drittens: Recht hat Werner Patzelt, wenn er Volksabstimmungen ablehnt, die von den Behörden willkürlich arrangiert werden (sog. Behörden-referenden), weil sie der Manipulation dienen können.

Viertens: Der Sprachgebrauch über den Sachverhalt ist nicht eindeutig. Klar ist nur, dass es sich (zusätzlich zu den Partei-Wahlen) um Mitwirkungs- oder verbindliche Mitentscheidungsrechte der Stimm-berechtigten an Sachfragen handelt, sei es an Gesetzen, an Verordnungen, an grossen Projektkrediten (Finanzreferendum) oder an Planungen. Die Bezeichnung als Plebiszite ist historisch belastet und in der Schweiz verpönt. Die Beschreibung als direkte oder unmittelbare versus repräsentative Demokratie gefällt Werner Patzelt zurecht auch nicht. Am sachlichsten ist es, einfach von Wahlen und Abstimmungen zu reden. Denn auch der Begriff Volksabstimmung ist eher euphemistisch. Zum einen stimmen nur die Wahlberechtigten ab und zum anderen ist es dann nur die Mehrheit jener, an der Abstimmung teilnehmen. Das kann ein ziemlich kleiner Teil des Volkes sein. Das Volk als Ganzes stimmt nur iuristisch ab, faktisch agiert es als vielfältige Gesellschaft, als Netzwerk von Interessengruppen, die überdies unterschiedlich von Abstimmungen profitieren und die, wie noch zu zeigen sein wird, die ‚plebiszitären Instrumente’ ganz verschieden handhaben können. Das ‚Volk hat also nicht nur eine, sondern sehr viele Stimmen’ und diese können die Instrumente der direkten Demokratie unterschiedlich für ihre Zwecke nutzen. Darüber sollte man sich keine Illusionen machen.

Wenn in der Schweiz von Volksbegehren als Initiativ- und Referendums-begehren die Rede ist, dann handelt es sich dabei immer um Gruppen-begehren. Und jene Gruppen, die über mehr Geld verfügen, lauter ‚schreien’, mehr Propaganda, in Populismus und in Opposition machen können, erreichen auch mehr über den Kanal dieser ‚Volksrechte’, wie man sie in der Schweiz nennt. Ausserdem ist es meistens ein Riesen-aufwand, erfolgreiche Abstimmungskampagnen zu führen. Und das können sozial und politisch schwächere Teile des Volkes nicht.

Schliesslich fünftens ein Wort zum ‚Modell Schweiz’, von dem zuletzt im ‚Stuttgarter Bahnhofkrieg’ auch die Rede war. Vorweg darf man nicht vergessen, dass Volksabstimmungen nicht selten hoch konfliktive (und ergebnisoffene bzw. riskante) Prozeduren werden können, weil sie ganz konkrete, sogar partikulare Bedürfnisse, Interessen und Wertvor-stellungen tangieren und dabei als majoritäre Ja- oder Nein-Entscheidungen bzw. als Gewinner- oder Verlierer- Ausmarchungen über die Bühne gehen. Theoretisch produzieren sie deshalb mehr Neins als Jas. Es sei denn, man präpariert die Vorlagen ex ante referendumssicher (vermeidet also Volksabstimmungen) und man stimmt permanent auf allen drei Staatsebenen ab, gewöhnt sich an die Auseinandersetzungen, wie es in der Schweiz mit ihrer (systembedingt) oft tiefen Stimm- und Wahlbeteiligung Praxis ist. Dann gleichen sich die Lager der Gewinner und der Verlierer mit der Zeit aus, was die plebisziäre Dynamik entschärft und das System legitim erhält. Die direkte Demokratie würde überfordert, wenn man das Abstimmungsvolk jährlich mehrere Mal an die Urnen triebe.

Ausserdem kennt das Schweizer Regierungssystem ein ganzes Bündel von institutionellen Vorkehrungen, welche die Konfliktivität von Sach-plebisziten verhindern, reduzieren und kompensieren. Dazu gleich Näheres. Vorerst muss an die besonderen staatlichen Rahmenbeding-ungen erinnert werden, die das ‚Schweize Modell’ möglich machen und funktionieren lassen.

Dazu gehört in erster Linie, dass die Schweiz ein aussenpolitisch neutraler Kleinstaat ist, zwar sprachgespalten wie die streitenden Belgier, aber seit 150 Jahren glücklich kriegsverschont, wirtschaftlich erfolgreich und exportorientiert wie Deutschland, deshalb soziologisch ausgeglichen und wohlhabend. Direktdemokratische Einrichtungen setzen stabile gesellschaftliche Verhältnisse voraus. Sodann ist die Schweiz nur etwa gleich gross wie das Bundesland Baden-Württemberg, zugleich aber, sage und schreibe, in 23 ‚souveräne’ Kantone und rund 2800 ‚autonome’ Gemeinden untergegliedert. Alle diese ‚Gebietskörperschaften’ haben eigene politische Verantwortungen, eigene Kompetenzen, ihr eigenes Geld und auch ihre eigenrechtlichen Regierungsorganisationen, also Parlamente, Parteien und Volksabstimmungen. Dadurch wird der gesamte politische Betrieb sehr stark verkleinert, beinahe miniaturisiert, für die Wahl- und Stimmberechtigten also transparenter, somit für die Meinungs- und Willensbildung einfacher und so direkter entscheidbarer. Jeder (und jede) Abstimmende kann die Konsequenzen bzw. den Nutzen oder die Kosten seiner Entscheidungen einigermassen direkter spüren, was dem plebiszitären Populismus Schranken setzt. Der Föderalismus ist damit eine ganz entscheidende Funktionsvoraussetzung für die Abstimmungs-demokratie.

Und wer vom ‚Modell Schweiz’ spricht, meint meistens nur ihr System von Volksabstimmungen und vergisst dabei, dass das Land auch über einen ausgeprägten konfliktorischen Föderalismus und einen Semi-parlamentarismus mit einem Vielparteiensystem verfügt. Hinzu kommt, was man hierzulande als Konkordanz-, besser wäre Verhandlungs-demokratie, bezeichnet. Kurz: man muss, weil man keine zentrale Macht hat (es gibt ja keinen Staatspräsidenten und keine starke Partei), nolens volens, auf Dauer zusammenregieren, (mit der sog. ‚Zauberfomel’ als dauerhafte, kam oder gar nicht abwählbare grosse Koalition auf allen drei Staatsebenen), um ‚kollektives Handeln und Entscheiden trotz der nicht vorausetzenden Zustimmung des Volkes bzw. seiner dauernden ‚plebiszitären’ Widerspruchsrechte’ zu ermöglichen. Deshalb erklärt sich die schweizerische Konkordanzdemokratie zu guten Teilen als kompensierendes Gegenstück zur hohen Konfliktivität und zum (politisch ‚verantwortungsfreien’, diffusen) Oppositionspotenzial ihres plebisziären Elementes und ihres sprachgespaltenen Föderalismus. Von diesem ‚Modell’ ist ziemlich wenig kopierbar.

Überhaupt: Ohne ein starkes repräsentatives Element, wie es die Schweiz mit ihren Zweikammersystem und ihrem auf Dauer regierenden Bundesrat (grosse Koalition bzw. ‚Zauberformel’) als eine Art ‚kollektiven Präsidenten’ auch praktiziert, könnte ihre direkte Demokratie nicht funktionieren. Von der ‚Zauberformel’ spricht man in der Schweiz, dass es möglich wurde, alle grossen Parteien an der Bundesregierung zu beteiligen und simultan regieren und opponieren zu lassen.

Nun zur Sache: Werner Patzelt verhandelt sechs ‚sinnvolle plebiszitäre Instrumente’. Was er dabei unter ‚Volksantrag’, uner ‚Volksgesetz-gebung’ über ‚Einzelantragabstimmungen’ Wirksames vorschlägt, begriff der Schreibende nicht. Ein ‚obligatorisches Verfassungsreferendum’ wäre wohl des Guten zu viel und sein Vorschlag einer ‚Parlamentsauflösung’ ist ein Thema der repräsentativen Demokratie.

Eher beiläufig erwähnt Patzelt als drittes Instrument ‚das fakultative Gesetzesreferendum, das vor allem aus der Schweiz bekannt ist’. ‚Man könnte dazu greifen, um ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zu korrigieren oder abzuschaffen. Die Wirkung dieses Instrumentes ginge dahin, dass Gesetze fortan nicht nur „verfassungsreichtssicher“ (!), sondern auch „referendumssicher“ sein müssten. Eben das brächte das Demokratieprinzip zur Geldung und könnte die Rolle des Verfassungs-gerichtes als letzte meist von der Opposition angerufene politische Instanz verringern.’

Bei der Lektüre dieser Passagen überkam den Schreibenden dann doch ein ungläubiges Staunen. Was Kollege Patzelt da so unter anderem und freundlich vorschlägt, ist in Tat und Wahrheit nichts weniger als ein ‚Ausstieg aus der repräsentativ-parteiendemokratischen Demokratie’. Denn wenn in Berlin ein faktultatives Gesetzesreferendum eingeführt werden würde, dann könnte das Parlament nicht mehr in letzter Instanz, sofort und verbindlich über Gesetze beschliessen, sondern müsste immer warten, ob jemand ausserparlamentarische und verantwortungsfreie Opposition macht oder nicht, also hinterher ein Referendum ergreift, dem dann eine nationale Volksabstimmung folgen müsste.

Damit könnte in Deutschland, jede Gruppe, die Interessenforderungen, Geld hat und Opposition machen will, nur auf der Basis von ein paar Tausend Unterschriften ein Referendum ergreifen und die Beschlüsse von Parlament und Regierung in Frage stellten. Das würde viel Zeit kosten. Man (wer?) müsste grosse Abstimmungskämpfe finanzieren und führen und ganze Gesetzgebungsprojekte könnten an Unwägbarem und am ‚Volksstreit’ scheitern. Koalitionsverträge und Parteiprogamme wären bestenfalls provisorisch; die Rolle der Parteien und der Wahlen würden relativiert und das gesamte System der parteiendemokratisch-repräsentativen deutschen Demokratie würde aus den Angeln gehoben, gewissermassen ‚verschweizert’.

Die Regierungsparteien müssten bei allen wichtigen Gesetzesvorlagen vorweg mit den betroffenen Verbänden verhandeln und ihnen mit Kon-zessionen die Referendumsdrohung ‚abkaufen’, wie es in der Schweiz der Fall ist und damit die Macht der Verbände ungemein stärkt. Und wie ein fakultatives Referendum Gesetze ‚verfassungsgerichtssicher’ machen könnte, ist völlig uneinsichtig geblieben. Fazit: Griffige ‚plebiszitäre Instrumente’ sind mit der parteiendemokratisch-repräsentativen deutschen Demokratie nicht kompatibel.

Der Verfasser ist Schweizer Staatsbürger und war Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Konstanz
Leonhard. Neidhart@Neidhart. net

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