Dunkelkammer Ständerat

Der Präsident der SVP Schweiz beschimpft den Ständerat eine ‚Dunkel-kammer’, in der also Dunkelmänner und Frauen sitzen und krumme Sachen machen. Einen, Mitglied für Mitglied direktdemokratisch gewählten gesetzgebenden Rat, dessen Plenumsverhandlungen und Beschlüsse öffentlich sind und vollständig publiziert werden, Dunkel-kammer zu nennen, ist nicht akzeptabel, schon gar nicht von einem Parteipräsidenten und Nationalrat. Das ist antiparlamentarischer Populismus und ausserdem eine fragwürdige Sprache. Dagegen ist wenig Kritik laut geworden, sei es, weil man die immer gleichen und oft billigen Sprüche jenes vorgeschobenen politischen Lautsprechers ohne Hintergrund gar nicht so recht ernstnimmt, sei es, weil es an Sensibiliät für den politischen Sprachverfall mangelt.

Zuerst war die ‚verkommene Classe politique’ an der Reihe, dann der ‚Schwindel’ der Bundesratswahlen und jetzt haben einige erkannt, dass der Ständerat eine ‚Dunkelkammer’ ist. Ausgerechnet jene Partei, die ständig vorgibt, das gute Erbe unseres Landes zu wahren, geht dermassen unsachlich mit unserem Regierungssystem um.

Gewiss darf man die Beschlüsse des Ständerates kritisieren. Sie sind, wie jene des Nationalrates, nicht immer der Weisheit letzter Schluss. Auch seine Zusammensetzung gefällt manchen nicht. Aber seine Organisation ist ein Preis, den die ‚Vereinigten Stände der Schweiz’ bzw. die Eidgenossenschaft für ihre vielen Unterschiede, für ihre Ungleichheiten, für ihre Interessengegensätze und damit für ihren Zusammenhalt bezahlt haben. Sie hat ihre Qualitäten, die alles andere als eine Dunkelkammer sind.

Nach der Gründung des Bundesstaates von 1848 fungierte der Nationalrat als sehr stolze Repräsentation der neuen nationalen Einheit. Sie wurde aber nur möglich, weil man allen Kantonen, den grossen und den kleinen, (klugerweise) die gleiche Beteiligung an der neuen Zentral-gewalt garantiert hatte. Und zwar durch der Ständerat als Kombination aus der alten Tagsatzung und dem amerikanischen Senat, mit je zwei Vertretern pro Kanton. Diese bestimmten das Wahlverfahren selbst. Mit der Zeit setzte sich überall die Volkswahl durch. Und weil nur je zwei zu wählen waren und immer noch sind, kann praktisch nur der Majorz in Frage kommen.

Die unveränderte Zweiervertretung liess den Ständerat klein bleiben. Die kleine Mitgliederzahl und sein Wahlverfahren prägen sein besonderes Profil, seine Gruppendynamik und seinen disziplinierenden Arbeitsstil. Denn die Mitglieder einer kleinen Gruppe kennen sich besser als in einer grossen. Man ist sich näher in Freundschaft, aber auch in Gegner-schaft, die man unterdrücken muss. Die Ständeräte sind gezwungen, sich in die Augen zu schauen, obwohl sie politische Konkurrenten oder Gegner sind. Sie können sich im kleinen Rat weniger ‚verstecken’ und damit werden ihre individuellen Leistungen und Fehlleistungen sichtbarer und auch angreifbarer. Sie sitzen Jahre lang auf den gleichen Sitzplätzen nebeneinander, von denen aus sie auch sprechen, deshalb nicht in lauter Rhetorik machen können. Wer sich in einem solchen Rat aus Gleich-gestellten Respekt erwerben und bewahren will, der muss argumentieren und überzeugen können.

Sodann nehmen kleine Gremien ihre Mitglieder generell stärker in Anspruch, weil sie ihre Leistungen mit weniger ‚Personal’ zu erbringen haben. Deshalb muss jedes Ständesratsmitglied in mehreren Kommis-sionen mitarbeiten. Dazu braucht kompetente Leute. Und in den Kom-missionen potenzieren sich die kleinheitsbewirkten Verständigungs-zwänge und gegenseitigen Kontrollen noch einmal. Schliesslich muss ein kleiner, im Vergleich zum Nationalrat deshalb schwächerer kollektiver Akteur, wie der Ständerat das ist, einiger sein und auch mehr tun, um glaubwürdig und einflussreich zu bleiben. Unheilige Allianzen kann er sich kaum leisten. Der Nationalrat ist eher eine Arena, der Ständerat eher ein Team (oder sollten es sein).

Überall beeinflussen die Verfahren der Wahl alle Merkmale der gewählten Gremien. So auch im Ständerat. Sein Majorz bewirkt eine breitere Legitimation der Gewählten, bürdet ihnen mehr Entscheidungs-anteile und damit eine grössere Verantwortung auf. Ausserdem selegiert es Kandidaturen mit grösseren Erfahrungen und Kompetenzen, (oder soll es zumindest) wodurch auch die nicht perfekt proportionale Zusammensetzung teilweise kompensiert wird.

Die kleine Mitgliederzahl und die Volkswahl bewirken ausserdem, dass die Mitglieder unserer ‚Zweiten Kammer’, die ein Rat und keine Kam-mer ist, zwei, nur lose gekoppelte Rollen spielen können und müssen, nämlich zugleich als ‚Abgeordnete’ der Kantone und als ‚Abgeordnete’ einer kantonalen Wählermehrheit. (Dass ausserdem noch Erwartungen der Parteien, der Interessengruppen und persönliche Ambitonen hinzu-kommen, soll auch erwähnt werden.) Jene lose Koppelung hat zur Folge, dass sich der Ständerat meist konstruktiv und nicht restriktiv (wie z.B. der Deutsche Bundesrat) mit dem Nationalrat auseinandersetzen kann und umgekehrt, was unserem vollständigen Zweikammersystem Problem-lösungsfähigkeit und Legitimität bewahrt hat. Individuell braucht es Charakter, um diese verschiedenen Rollen korrekt zu erfüllen. Dass muss auch die Wählerschaft wissen. Denn wenn sie ‚schwache’ Ständeräte wählt, macht sie andere automatisch stark.

Gewiss ist die genuine bündische Integrationsfunktion des Ständerates weniger notwendig geworden. Alles andere wäre unerfreulich und ‚belgisch’. An ihre Stelle sind aber die massiv gewachsenen Aufgaben des Staates und damit des Parlamentes getreten. Diese neuen Entscheidungslasten und die Tatsache, dass wir nur ein halbberufliches Parlament wollen, haben dem Zweikammersystem bzw. der Doppelbe-ratung durch zwei verschieden arbeitende Räte eine neue Bedeutung gegeben. Hinzu kommt, dass bei uns die Politiken bzw. die Legislatur-programme nicht durch Koalitionsverhandlungen der Parteigremien vor-entschieden, man blicke aktuell dazu nach Baden-Wüttemberg, sondern von zwei vollständig gleichberechtigten Räten beschlossen werden.

Es ist notwendig und richtig, dass die Parteien im Nationalrat ihre Standpunkte und Profile produzieren, sonst gehen bald nur noch ein paar Parteianhänger an die Urnen. Sollte der Ständerat aber durch eine strikte Parteipolitisierung und durch die Wahl von verbalen Kraftmeiern und Fernsehbekanntheiten seine verständigungsorientierte Rolle verlieren, dann könnte er auch den Nationalrat weniger zu Korrekturen und zur Konkordanz disziplinieren und die Mühen um referendumstaugliche Vorlagen würden noch schwerer. Und je stärker sich unser Parteiensytem zersplittert, desto wichtiger wird die Rolle des Ständerates. Er soll bleiben, was er ist, und kein kleiner Nationalrat werden.

Leonhard Neidhart

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