Die persönlichen Vorstösse unserer Bundesparlamentarier

Gemeint sind die Möglichkeiten, welche die Volks- und Standesver-treterInnen mit der parlamentarischen Initiative, der Motion, der Interpel-lation, des Postulats, der Fragestunde und der schriftlichen Anfrage ha-ben. Alle werden überaus häufig praktiziert, und das ist einmalig. So wur-den zur jüngsten Energiedebatte  über 250 Vorstösse eingereicht, weitere 270 kamen in der gleichen Session zu anderen Themen hinzu. Zugleich hörte man von einer Nationalratskommission, der Bundesrat weigere sich, ‚für eine bessere Umsetzung dieser Vorstösse zu sorgen’. Er missachte den Willen des Parlaments und erfülle dessen Aufträge nicht. Was ge-schieht  da? Warum dieser Aktivismus, und welche Wirkungen zeitigt er?

 

Zunächst zu den Mengen: Seit den Wahlen von 2003 sind, alle  Vorstoss-arten zusammen, pro Session durchschnittlich 250 derartige Interven-tionen ‚deponiert’ worden. Im Ganzen waren es bis Ende 2006 3 753 an der Zahl. Im einzelnen handelte es sich um 255 parlamentarische Ini-tiativen. Das sind Begehren, die das Parlament an sich selbst richtet. Hin-zu kamen 672 Motionen, also Forderungen des Parlaments an die Exe-kutive, dann 1043 Interpellationen, die  als dringlich erklärt und zu De-batten über aktuelle Fragen  führen können, ausserdem   312 Postulate (schwächere Forderungen), 859 Fragestundenfragen, die der Bundesrat zum Teil mündlich  beantwortet und schliesslich 547 schriftliche An-fragen. Der Ständerat war bescheidener, aber als viermal kleinerer Rat mit seinen insgesamt 660 Vorstössen auch nicht schweigsam. Thematisiert wurde dabei alles mögliche, eine bestimmte politische Stossrichtung ist nicht erkennbar.

 

Wie erklärt sich dieser exorbitante Strom von Interventionen? Natürlich hat er mit der Dynamik der sozioökonomischen Entwicklung unserer Ge-sellschaft, mit den Veränderungen der Parteienlandschaft, mit dem Wach-stum der Staatsaufgaben, damit der Ausweitung der Macht des Bundes-rates und infolgedessen mit einem gewissermassen nachholenden Gel-tungsanspruch der Räte zu tun. Entscheidend waren die sechziger Jahre des letzten  Jahrhunderts. Damals riss die Mirageaffaire  die Bundesver-sammlung aus ihrem eher gemütlichen Versammlungsrhythmus. Sie ver-stärkte die Verwaltungskontrolle und ihre  Hilfsdienste und gleichzeitig wagten sich immer mehr Parlamentarier mit Vorstössen nach vorn, nachdem früher nur die Kommissionen solche Interventionen erzeugt hatten. Schon damals klagte man über die Flut solcher Vorstösse.

 

Aber dieser Zuwachs der Staatsaufgaben vollzog sich auch  in anderen Ländern. Deshalb erklärt sich dieses Wettrennen in den Schweizer Räten primär systemisch. Es findet statt, weil die Institutionen es zulassen.   Ein erster Grund liegt schlicht in der kleinen Mitgliederzahl der Räte. Im Deutschen Bundestag mit seinen rund 600 Mitgliedern zum Beispiel wäre das allein  zahlenbedingt nicht möglich. Denn je kleiner die Mitglieder-zahl einer Organisation ist, desto ‚grösser’ sind  Stellung, Handlungs-spielraum und Funktion der Individuen. Alle Prozesse laufen dort indivi-dualistischer ab. Somit   müssen und wollen die Einzelnen auch mehr für ihre Stellung tun, während ein grosses Parlament seine Mitglieder in Fraktionen einbindet, damit auch trägt und schützt und deren Aktivitäten  bündelt.  Wenn also der Nationalrat A von der Partei B Vorstösse lan-ciert, dann wollen  die anderen Parteien nicht zurückstehen.  Nur die Parlamentselite hat solche Sololäufe nicht  nötig.

 

Die kleine Zahl gilt  nicht nur für die Räte, sondern auch für die kanto-nalen ‚Abordnungen’.  Diese sind klein, weil wir viele kleine kantonale Wahlkreise haben, in denen mehrere Parteien kandidieren. Deshalb sind  die Abordnungen klein und ihre Mitglieder  bekannt, sodass sich Erfolge bzw. Vorstösse im Bern stärker persönlich zurechnen lassen. Also tätigt man sie.  Auf weitere Ursachen dieser politischen Plethora sei nur hinge-wiesen. Zunächst sind bei uns die Funktionen von Regierung und Oppo-sition nicht streng getrennt, sodass alle zu allem intervenieren können. Sodann tagt man in Bern nur sessionsweise, also zeitlich kurz und unter hohem Zeitdruck, d.h. unter  ridiger Beschränkung der Redezeit. Redet ein Nationalrat nämlich  eine Minute länger als bewilligt, muss er Vorhaltungen des Präsidenten und  ungeduldige und saure Gesichter im Saal gewärtigen. Überhaupt  kommt man nur schwer zu Wort, man ist ein Millizpolitiker bzw. ‚nur ein halber Parlamentarier’.

 

Wen wundert es deshalb, dass unsere Volksvertreter, die  zu Hause  meist vieles stehen und liegen lassen müssen, dann,  wenn sie kurz nach Bern reisen, um dort in langen Sitzungen die Reden der anderen anzuhören,  auch eine Spur, also einen persönlichen Vorstoss hinterlassen wollen, um anschliessend mit etwas mehr innerer Befriedigung und Erfolgsgefühl oder mit weniger Frustration nach Hause fahren zu können. Und noch einmal: Weil unser Parlamentsbetrieb trotz aller Parteien und milizbedingt stärker individualistisch oder personenbezogener abläuft, müssen auch Erfolge oder Misserfolge individueller getragen werden. Auch das kommt  in den vielen Vorstössen zum Ausdruck.

 

Nun zur Frage der Wirkungen. Ihre grosse Zahl steht gewiss für erwartete Wirkungen, sonst würden sie nicht praktiziert. Es steckt auch eine Menge Arbeit dahinter. Es sind dies zunächst, wie eben erläutert, positive Effekte auf das Rollenverständnis eines eidgenössischen Parlamentariers. Sodann vertragen sich diese Aktivitäten offenbar gut  mit den Eigenheiten und dem Selbstverständnis unseres nationalen Parlamentes als einer Bundes-versammlung, in die man aus allen Regionen, Kantonen und Interessen-verbänden zusammenkommt, um Forderungen  anzumelden und  auszu-handeln und um das Nötige vorzukehren. Gewiss transportieren sie auch viel Wissen und Interessen in die Bundesverwaltung und beeinflussen deren Agenda. Kontrolle bewirken sich auch. Ausserdem intensivieren sie die direkte Kommunikation zwischen dem Parlament und  dem Bundes-rat, weil dieser immer wieder persönlich zur Beantwortung von Inter-pellationen und Fragen antreten muss. Als Nebenberufsparlamentarier verfügen Schweizer Volksvertreter, trotz ihrer starken Abhängigkeit von der Bundesverwaltung, qua Beruf und  wesentlich durch eigene Kräfte bewirkte Wahl über ein ordentliches Selbstbewusstsein, das sie in solchen Vorstössen unbehindert artikulieren. Sie nützen diese Möglichkeiten aber selber ab, wenn sie  sie übertreiben.

 

Leonhard Neidhart

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