Die Bundesversammlung und der Bundesrat

Aus aktuellem Anlass (‚Opposition’ der SVP, die Bundesräte Schmid und Widmer-Schlumpf, bevorstehende Wahl des Bundesratsvizepräsi-denten) soll die im Titel angedeutete ‚Gewalten(ver)teilung’ zum Thema gemacht werden. Sie ist bei uns bekantlich von besonderer Art,was schon in der Namensgebung zum Ausdruck kommt. Um diese Eigenheiten einen Schritt zu klären, ist eine begriffliche Präzisierung notwendig.

Der Begriff ‚Gewaltenteilung’ ist nämlich weit und deshalb ungenau. In Wirklichkeit handelt es sich dabei auch um die Verteilung von politischer Macht, Herrschaft, Einfluss, Kompetenzen, Funktionen und Verantwor-tung. Sodann hat er mindestens drei Seiten. Erstens einen Ursprung, einen Träger (Prinzipal), der nicht alles allein bewältigen kann, deshalb ‚Ge-walten’ an Repräsentanten (Vertreter) oder Delegierte (Angestellte, ‚Agenten’) abgeben muss, damit teilt. Mit unserer direkten Demokratie gibt das Volk (der Prinzipal) bzw. das Netzwerk gesellschaftlicher Grup-pen weniger politische Gewalt an Repräsentanten ab. Das beeinflusst dann die gesamte Gewaltenteilungskette und auch die jetzt ins Auge ge-fassten Interaktionen und Interdependenzen zwischen Bundesver-sammlung und Bundesrat. (Für den Föderalismus gilt ähnliches).

Zweitens heisst Gewaltenteilung eben Trennung und damit Verkleinerung von Gewalt, was deren Träger schwächer, abhängiger und beeinflussbar-er macht und damit zur Kooperation zwingt. Das kommt vor allem im Proporz, im Zweikammersystem, in der Zauberformel, der Konkordanz und auch in der Organisation des Bundesrates zum Ausdruck.Dort teilt das Departementalprinzip Gewalten und das Kollegialprinzip ‚bindet’ sie wieder zusammen. Drittens teilt Gewaltenteilung nicht nur ab, sondern Gewalt auch zu. So macht sie Akteure wie das Volk, die Kantone, Bun-desversammlung und Bundesrat unabhängiger, insofern stärker, was ebenfalls wieder ‚Gewaltenverbindung’ notwendig macht, Integrations-funktionen, die durch Zauberformel und Konkordanz erbracht werden.

Die zahlreichen Formen der ‚Gewalten(ver)teilung’ unseres Regierungs-systems machen dieses zu einem eher lose gekoppelten Netzwerk, einem ‚Patchwork’ aus unterschiedlichen Institutionen und Prozeduren. Sie sind die ‚Basis’,aus der vielfältige Interaktionen und starke funktionale Inter-dependenzen zwischen den Akteuren und staatlichen Institutionen entste-hen. Um jene zwischen Bundesversammlung und Bundesrat geht es jetzt.
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Dabei handelt es sich um ein ganzes Bündel von Interaktionen und Inter-dependenzen (Machbeziehungen), weil damit verschiedene Aufgaben oder (Entscheidungs-) Funktionen erfüllt (Ziele angestrebt) und unter-schiedliche Mittel (Ressourcen, Sanktionen) eingesetzt werden, sodass, wie sich zeigen wird, die beiden Instanzen in je verschiedenen ‚Rollen’ aktiv werden und auf je anderen Ebenen agieren (können).

Teils handeln die beiden ‚kollektiven Akteure’ dabei in eigener Kom-petenz (und eigener Macht), teils gemäss Delegation, teils gemeinsam und in verschiedener Formation. So kann der Bundesrat in der Bundes-versammlung als ‚Führer’ (Prinzipal), Partner oder ‚Angestellter’ (Agent) wirken. Je nachdem tritt er als Kollegium, als Fachdelegation, durch Departementsvorsteher (Fachminister) oder in der Ange-hörigkeit seiner Mitglieder zu einer Partei, einer Region oder Sprache (Geschlecht) auf.

Für die Bundesversammlung gilt analoges. Sie ist nicht nur Prinizipal, sondern auch Partnerin des Bundesrates. Ihm tritt sie als Ganze oder durch einen der beiden Räte, als Regierungsfraktion, als Opposition, als Kommission (und Delegation), als interessenbezogene oder regionale Arbeitsgemeinschaft (Sprachen, Frauen) oder durch ein Einzelmitglied gegenüber. Die Kommunikation zwischen den beiden Instanzen kann informell von Personen zu Person, offiziell in Kommissionen, im Plenum oder in der Öffentlichkeit erfolgen. Für diese Kommunikation gelten zwar die Sprachenbarrieren, aber wegen der kleinen Mitgliederzahl in den Räten kennt man sich gut. Das diszipliniert und Vieles kann vertraulicher und schneller hinundhergehen.
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Jetzt zuerst zur Wahl des Bundesrates. Fundamental abhängig (oder ein-geengt) ist die Bundesversammlung dabei durch die ungeschriebene Ab-machung der Machtverteilung qua Zauberformel, einem wegen der zahl-reichen Parteien, verschiedenen Sprachen und auch dem Geschlecht komplexen Regierungsproporz a priori. Um es zu wiederholen: Diese viel diskutierte Zauberformel prägt viele Interaktionen und Interdependen-zen in unserem Regierungssystem, damit auch die Konflikte sehr wesent-lich. Indem sie die Regierungsbeteiligung der grossen Parteien (und Spra-chen) absichert, reduziert sie den Kampf um die Macht und damit über-rissene Versprechungen,Polemiken und Demagogie inWahlkämpfen, was für das Funktionieren der von Natur aus konfliktträchtigen direkten De-mokratie (und der Willensnation des Kleinstaates schlechtin) wichtig ist.

In diesem Rahmen hat die Wahl des Bundesrat drei Funktionen, erstens die Repräsentation der (Volks-) Parteien und damit die Absicherung ihres Regierungsanteils, zweitens die Delegation von Aufgaben und Funktio-nen von der Bundesversammlung an den Bundesrat und drittens die Legitimation der Bundesräte. Streng genommen handelt sie dabei in zwei Rollen: Zum einen bestellt sie als ‚Angestellte’ oder Agentin’ des Volkes und der Parteien (der Prinzipale) den Bundesrat (Repräsentation). Zum anderen wählt sie in ihrer Eigenschaft als Auftrag-geberin oder Prinzi-palin den Bundesrat als ihren ‚Angestellten’ (Delegation).

Hinzu kommen weitere Rahmenbedingungen: Erstens ist die Anzahl der Bundesräte (damit der Machtanteil) jeder Fraktion klein, weil das Bun-desratsgremium selber (unveränderbar) klein ist. Zweitens (damit wirkt die andere Seiten der Gewaltenteilung) sind diese Einzelanteile der Frak-tionen im Bundesrat gleichwohl gross, weil er selber klein, bzw. weil die Macht im Bundesrat auf wenig Mitglieder (gleich) verteilt ist. Drittens teilen die Verfassung und die Funktionsgrenzen des Milizparlamentes dem im Volk hoch legitimierten und kontinuierlich arbeitenden Bundesrat viel ‚Gewalt’ zu, und zwar sachlich (kompetenzmässig), organisatorisch (Geschäftsverteilung in eigener Regie) und zeitlich für eine ganze Legis-latur (ohne Misstrauen). Und schliesslich viertens können Bundesräte aus den bekannten Gründen in aller Regel nicht abgewählt werden und wählen ihren Rücktritt selber.

All das macht die Bundesratswahlen spannend und kann Risiken und Kosten von Repräsentations- und Delegationsverlusten (auch von Kon-flikten) hoch werden lassen, die den Parteien, den Fraktionen und auch der Bundesversammlung als der Prinzipalin durch einen ‚schlechten’ oder schwer ‚kontrollierbaren’ Bundesrat entstehen. Um sie zu begrenzen werden eben berechenbare Bundesräte gewählt. Dabei dürften Geist und Kultur des Nebenberufsparlamentes, das (deswegen) sehr intensiv mit Bundesräten kommunizieren muss, auch eine Rolle spielen. Um das Kon-fliktpotenzial zu begrenzen, werden Bunderäte in aller Regel wieder-gewählt und man überlässt ihnen den Rücktritt. Der Bundesrat selbst geht Streit dadurch aus dem Weg, dass er das Präsidum strikt rotieren lässt und die Ressorts nach Amtsdauer verteilt. Und weil keine Partei oder Frak-tion in der Bundesversammlung und im Bundesrat eine Mehrheit, ist jede von der Zustimmungsbereitschaft der anderen ab-hängig, damit einge-schränkt, was auch zum Preis der Zauberformel gehört. Geschadet hat dieser hohe Selektionszwang ha der Eidgenossenschaft nicht.
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Für eine Mehrheit der Bundesversammlung war ein Bundesrat der SVP nicht mehr ausreichend ‚kontrollierbar’. So kam es zu einer spektakulären Abwahl. Einmalig ‚schweizerisch’ ist dabei, dass die SVP (trotz Partei-ausschluss ihrer eigenen Bundesräte) programmatisch zwar im Bundesrat vertreten ist, gleichwohl aber Nichtvertretung und eine Opposition pro-klamiert, eine Opposition, wie sie es in unserem Regierungssystem so nicht gibt und die bei Volksabstimmungen überhaupt nicht praktiziert werden kann.

Dieses Doppelspiel ist möglich, weil bestimmte politische Funktionen in unserem kleinstaatlichen Regierungssystem schwächer institutionell aus-differenziert und spezialisiert sind. Die Oppositionsfunktion ist ein Bei-spiel dafür. Man kann in Bern opponieren, obwohl man in der Regier-ung ist. Mangels anderer Möglichkeiten ist Opposition dort gewisser-massen individualisiert,was mit der Flut parlamentarischer Vorstösse zum Ausdruck kommt. Möglicherweise kompensieren Parlamentarier damit auch Enttäuschungen, die sie mit den Zwängen der Konkordanz, dem Milizprinzip und der Zeitnot des ‚Sessionsparlaments’ machen müssen.
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Zu Gesetzgebung und Kontrolle nur kurz. Bei der Gesetzgebung gilt die Doppelseitigkeit der Gewaltenteilung auch. Beide Instanzen sind sehr stark aufeinander gewiesen (beide sind gleichzeitig Prinzipal und Agent), zugleich insofern ‚autonom’, als sie sich nicht spezifisch sanktionieren können (bei den Bundesratswahlen nur schwerlich). Die Räte können nicht viel ‚machen’, wenn der Bundesrat nicht will, und dieser kann gesetzgeberisch nicht viel ‚machen’, wenn die Bundesversammlung nicht will. Über Beiden hängt aber das Damoklesschwert des Referendums, das sie gleichwohl zu Kooperation und Konkordanz nötigt.

Weil das Nebenberufsparlament mit seinen sachlichen und zeitlichen Ressourcen knapp ist, zwingt es den Bundesrat bei der Gesetzesberatung zu intensiver Mitarbeit. Es gibt wohl kaum ein Parlament, in dem Regier-ungsmitglieder so umfangreich in Kommissionen und Plenung mitwirken müssen, wie im schweizerischen. Damit reduzieren die Räte Delegations-verluste und Informationsasymetrieen, die zwischen dem Milizparlament als dem Auftrageber und der professionellen Bundesverwaltung als An-gestellten zwangsläufig bestehen.

Schliesslich zur Verwaltungskontrolle. Dabei ist die Beziehungsstruktur zwischen dem Prinzipal und dem ‚Angestellten’ (Bundesadministration) klar. Gleichwohl bestehen insofern Informationsasymetrien, als die Ver-waltung oft mehr weiss und ihr Wissen vor Kontrolleuren leicht ‚ver-heimlichen’ kann. Aber die Zauberformel bzw. die Tatsache, dass die Parteien in Bundesversammlung und Bundesrat proportional vertreten sind, verhindert rein parteipolitisch motivierte (ungleiche) Kontrollen, wie sie in parlamentarischen Regimen möglich sind, wo man der Oppo-sition viel verhindern kann. Ausserdem steht mit den soziologisch breiten und qua Milizprinzip ein Stück weit ‚überparteilich’ legitimierten Parla-ment der Bundesadministration ein starker Kontrolleur gegenüber. Schliesslich erleichtert die Zauberformel, d.h. die Mehr-parteienregierung auch bundesratsinterne Kontrollen. Die intensive Ge-waltenteilung verkleinert den Machtmissbrauch und macht mit ihrer Teilung die Gewalt auch kontrollierbarer damit effizienter, trotz der starken Stellung des Bundesrates.

Leonhard Neidhart

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